Klassische Musik:Ausgetüfteltes Arrangement

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Die Spieltechnik der acht Musiker und Musikerinnen ist virtuos, aber noch mehr als die Virtuosität wirkt ihre Ausstrahlung und Spielfreude. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Das Ensemble "Gli Incogniti" spielt im Schloss Dachau sieben Konzerte von Antonio Vivaldi und fasziniert dabei vom ersten bis zum letzten Ton.

Von Adolf Karl Gottwald, Dachau

Der populärste Barockkomponist vor Bach und Händel ist zweifellos Antonio Vivaldi. Denkt man an die Darstellung der Jahreszeiten in der Musik, so hat man Joseph Haydns Oratorium "Die Jahreszeiten" und die viel häufiger aufgeführten "Vier Jahreszeiten", das sind vier Violinkonzerte von Vivaldi, im Sinn. Aber Igor Strawinsky hat einmal gesagt, Vivaldi habe "dasselbe Konzert an die 600 Mal komponiert".

Bei den Dachauer Schlosskonzerten gab es jetzt einen reinen Vivaldi-Abend mit sieben dieser rund 600 angeblich immer gleichen Konzerte. Wie übersteht man das als Zuhörer eines Konzertabends dieser Art? Die Antwort sei vorweggenommen: wunderbar, ein erlesener Konzertgenuss.

Schneller Satz - langsamer Satz - schneller Satz

Das Wunder, das in dem Wort "wunderbar" steckt, hat seine Berechtigung. Strawinsky hat mit seiner Behauptung nicht ganz Unrecht. Alle Konzerte sind nach der gleichen Art gestrickt: schneller Satz - langsamer Satz - schneller Satz, Concerto-grosso-Prinzip mit dem steten Wechsel von vollem Orchester und Einsätzen der Solisten, ausgesprochen virtuose Passagen mit doch auffallend ähnlichem Tonmaterial wie sehr schnelle Tonrepetitionen und Läufe sowie Dreiklangsbrechungen, dazwischen meist kurze italienisch kantable Sätze. Wie schafft es das Ensemble "Gli Incogniti" (die Unbekannten), mit nur acht Musikerinnen und Musikern um die Geigerin Amandine Beyer und einem Oboisten (Gabriel Pidoux) als weiteren Solisten einen Abend lang solche Musik zu spielen und dabei nicht zu langweilen, nein im Gegenteil, vom ersten bis zum letzten Ton zu faszinieren und dem Publikum ein unvergessliches Musikerlebnis zu vermitteln?

Es liegt an der Art ihres Musizierens. "Gli Incogniti", allen voran ihre Primgeigerin und erste Solistin Amandine Beyer, musizieren so im wahrsten Sinne des Worts "lebendig", dass man den Eindruck hat, die Musik entstehe im Augenblick der Aufführung und sei auf keinen Fall eine längst und penibel einstudierte Angelegenheit.

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Die Spieltechnik aller Beteiligten ist virtuos, aber noch mehr als die Virtuosität bewirkt ihre Ausstrahlung und Spielfreude. Da huscht ein Lächeln über das Gesicht von Amandine Beyer, als sei ihr oder auch einem Mitspieler eine sehr schwierige Passage besonders gut gelungen. Man hat den Eindruck, das Musizieren sei weitgehend von dem in der Barockmusik so wichtigen Moment der Improvisation geprägt, und kommt kaum auf die Idee, diese scheinbare Improvisation sei in Wirklichkeit ein genauestens ausgetüfteltes Arrangement.

Besondere Sorgfalt widmet das Ensemble der Gestaltung des die Solisten begleitenden, stets gegenwärtigen Basso continuo - in Deutschland auch "Generalbass" genannt. Da spielt (in den Forte-Abschnitten) einmal der ganze mit Cembalo, Theorbe, Violoncello und Violone besetzte Basso continuo, dann übernehmen nur zwei Violinen und Viola zart die Begleitung. Wieder ein anderes Mal ist es das Cembalo und sogar die Theorbe allein, die jeweils den Charakter der gerade gespielten Musik fein unterstreichen. In dieser geradezu mitreißenden Art gespielt hörte man im Dachauer Schloss ein kurzes Concerto für barockes Streichorchester, zwei Violinkonzerte, ein Konzert für Oboe und Streicher, ein anderes für Violine und Oboe, ein Concerto für Violine, Oboe und Cembalo (an Stelle einer Orgel) und nicht zuletzt das hochvirtuose Concerto für Violine und Violoncello "Il Proteo, ossia il mondo al rovescio", das dem Abend den Titel gab "Die Welt steht Kopf".

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