Erinnerungsarbeit an der KZ-Gedenkstätte:"Ich habe oft geweint"

ASF Freiwillige

Die Erfahrung, zum ersten Mal für längere Zeit im Ausland zu leben, verbindet: Anastasiia Lapteva (l.) und Maeva Keller haben ein Jahr lang die Erinnerungsarbeit der Versöhnungskirche unterstützt und sind gute Freundinnen geworden.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Anastasiia Lapteva und Maeva Keller haben als Freiwillige der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste ein Jahr lang die Erinnerungsarbeit an der Gedenkstätte unterstützt und Biografien ehemaliger KZ-Häftlinge recherchiert. Deren Schicksale gingen den jungen Frauen sehr nah.

Von Franziska Stolz, Dachau

Maeva Keller, 23, aus Frankreich und Anastasiia Lapteva, 22, aus Russland haben ein Jahr lang die Erinnerungsarbeit der evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau unterstütz. Die jungen Frauen wollten dabei Deutschland kennenlernen, erfahren wie man hier lebt. Doch der Aufenthalt und die Arbeit in Dachau eröffneten den beiden nicht nur Einblicke in eine gegenwärtige Alltagswelt, sondern brachten auch die dunklen Bilder und Geschichten des Zweiten Weltkriegs nah an sie heran.

Als Freiwillige für Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) gaben Lapteva und Keller neben der Mitarbeit an der Versöhnungskirche auch Gruppenführungen durch die KZ-Gedenkstätte und wirkten engagiert mit beim Projekt "Gedächtnisbuch für die Häftlinge des KZ Dachau". Einmal halfen sie Schülerinnen und Schülern des Gymnasium Grafing bei der Recherche in Archiven. Das Gedächtnisbuch sammelt Biografien ehemaliger Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau. Ehrenamtliche verfassen die Lebensgeschichten und tragen dafür Dokumente, Bilder und Informationen aus verschiedenen Quellen zusammen.

Arbeiten an Biografien ehemaliger KZ-Häftlinge

Keller und Lapteva teilen ein großes Interesse für die Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Das Jahr in Dachau nutzen sie für intensive Recherche und die Aufarbeitung von Einzelschicksalen ehemaliger KZ-Häftlinge. Einmal stößt Keller, die ihren Bachelorabschluss in Geschichte an der Uni in Straßburg abgeschlossen hat, im Archiv der Gedenkstätte auf die Geschichte eines französischen Generals. Im Zweiten Weltkrieg hat dieser den Auftrag, paramilitärische Widerstandsgruppen in Frankreich zusammenzuführen. Doch dann verhaftet ihn die Gestapo in Paris und sperrt ihn ins KZ Natzweiler-Struthof. Später deportieren ihn die Nazis nach Dachau, wo er zehn Tage vor der Befreiung durch die US-Armee stirbt.

Sechs Monate lang arbeitet Keller an der Biografie. Sie schreibt diese zunächst auf Französisch, dann mithilfe eines Freunds und ihres Vaters auch auf Deutsch. Neben der Sichtung alter Dokumente setzt sich die 23-Jährige mit den Angehörigen dieses Häftlings in Verbindung. "Seine Familie hat mir Fotos zugesendet und den Kontakt zu einem Historiker hergestellt, der sehr hilfreich war," sagt sie.

"Seine Familie war sehr glücklich darüber, dass jemand das Leben des Großvaters recherchiert"

Auch Lapteva hat einen Beitrag zum Gedächtnisbuch erstellt. Sie wird über ein Interview auf einen ehemaligen sowjetischen Häftling aufmerksam, dessen Lebensgeschichte sie mit Unterlagen aus verschiedenen Archiven zu rekonstruieren beginnt. "Ich war so froh, als ich endlich Angehörige des Mannes ausfindig machen konnte," erzählt Anastasiia Lapteva und fügt an. "Und seine Familie war sehr glücklich darüber, dass jemand das Leben des Großvaters recherchiert, dass sich Menschen hier in Deutschland darum kümmern, die Geschichte der Konzentrationslager nicht in Vergessenheit geraten zu lassen."

Die traurigen Schicksale der ehemaligen Häftlinge sind oft schwer zu ertragen. Lapteva findet ein Foto, das den sowjetischen Häftling mit einem Kameraden abbildet. Auf die Rückseite hat dieser Kamerad und Mithäftling eine kleine Botschaft geschrieben: "Wir haben es überlebt. Ich hoffe, wir bleiben immer Freunde. Wir haben uns gegenseitig viel geholfen, ich bin dankbar dafür. Und für dich. Wir müssen alles tun, um diese Zeit nicht zu vergessen. Alle Welt soll wissen, was wir durchgestanden haben." Als Lapteva das liest, bricht sie in Tränen aus. "Ich habe oft geweint, es ist schon belastend sich mit diesen Geschichten auseinandersetzen."

Ein Lebensstudium

Keller und Lapteva wissen jedoch wie wichtig diese Erinnerungskultur ist und wollen gerne dazu beitragen. Auf den Spuren ehemaliger KZ-Häftlinge eignen sie sich viel neues Geschichtswissen an. "Unsere Zeit hier in Dachau war ein Geschichtsstudium, aber auch ein Lebensstudium," sagt Keller. "Wir haben viel über Menschen gelernt. Darüber wie es ist, alleine in einem fremden Land zu leben, und wie man zusammenlebt. Anastasiia und ich kommen aus sehr verschiedenen Kulturen, da war es interessant zu sehen, wo die Unterschiede liegen und wo die Gemeinsamkeiten."

Inzwischen sind die zwei jungen Frauen, die das Jahr über eine Wohnung teilten, gut befreundet. Die Erfahrung, zum ersten Mal für längere Zeit im Ausland zu leben, verbindet. Im Winter haben sie noch ein wenig Heimweh, doch sie lernen bald die Reize der Stadt Dachau schätzen. "Ich komme aus einer großen Stadt, Perm im Uralvorland, mit mehr als einer Million Einwohner," sagt Lapteva. "Dagegen kommt mir Dachau sehr klein vor, aber schön." Großstadtleben kennt auch Keller, die eine Zeit lang in Paris lebte, bevor sie nach Dachau kam: "Aber ich mag das Leben hier lieber. In Paris ist alles teuer, es gibt zu viele Leute, zu viel Stress." Ein Lieblingsort der beiden ist von Anfang an das Schloss, sie machen Spaziergänge im Schlossgarten, genießen den Blick auf die Alpen.

Sie besuchen auch andere Städte in Deutschland und Europa. Im Laufe des Jahres nehmen sie an verschiedenen Seminaren für Freiwillige teil und reisen dafür unter anderem nach Benediktbeuern, Weimar und Würzburg, einmal auch nach Polen. Einer der Höhepunkte des Jahres ist für Keller und Lapteva die Internationale Jugendbegegnung im Dachauer Max-Mannheimer-Haus. Dort treffen sie jungen Menschen aus Deutschland und vielen anderen Ländern. In Workshops setzen sich mehr als 60 Teilnehmer aus aller Welt in mit historischen und gegenwärtigen Formen von Nationalismus, Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten auseinander.

Ihre Ausstellung: "Gegen Rassismus - Stimmen der Jugend aus aller Welt"

Bei Lapteva hinterlässt ein Workshop besonders Eindruck, weil Häftlinge ausgesellschaftlichen Randgruppen, wie zum Beispiel Homosexuelle, thematisiert werden. "Es war spannend und schön für mich zu sehen, wie offen der Umgang in Deutschland mit dem Thema ist, und dass Homosexualität gelebt werden kann. In Russland wäre das vielleicht in Moskau und Sankt Petersburg denkbar, aber nicht darüber hinaus."

Ein Programmpunkt bei der Internationalen Jugendbegegnung ist für die beiden ASF-Freiwilligen nicht neu: eine Führung durch die Gedenkstätte. "Wir geben ja selber Führungen," sagt Keller. Aber am Ende erfährt sie bei dem Programmpunkt doch etwas, das sie noch nicht kennt. "Das konnte ich mir für meine letzten Führungen mitnehmen und auch erzählen."

Ein Jahr lang haben Maeva Keller und Anastasiia Lapteva als Freiwillige die evangelische Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte unterstützt und die Ausstellung "Gegen Rassismus - Stimmen der Jugend aus aller Welt" erarbeitet. Auf den Spuren der Vergangenheit und mitten in der Gegenwart bayerischer und deutscher Kultur haben Keller und Lapteva vieles gelernt. Zum Beispiel Deutsch. Als sie ankamen, konnten beide nur wenig sagen, inzwischen führen sie Gespräche mit Leichtigkeit.

An diesem Dienstag verabschieden sich die zwei jungen Frauen von Dachau. Lapteva bleibt in Deutschland und studiert Soziale Arbeit in Dresden. Keller kehrt in ihre Heimat zurück und studiert Museologie in Straßburg. Doch die Zeit in Dachau werden sie nicht vergessen. "Ich werde mich vor allem an das Team hier erinnern," sagt Lapteva. "Unsere Kollegen waren so nett und hilfsbereit. Wenn ich ein Problem hatte, haben sie sich immer Zeit genommen. Selbst wenn sie im Stress waren." Keller nickt und sagt: "Ja, das Team wird mir auch fehlen. Und das bayerische Bier." Die zwei Freundinnen lachen.

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