Der Chef hier im Ring schiebt erst mal eine ruhige Kugel. Denkt man. Mister Mikrokosmos hat einen Bauchumfang wie Obelix, aber der Wanst ist noch kugeliger, wie ein alter Kessel oder U-Boot-Rumpf scheint er aus Metallplatten zusammengenietet zu sein. Der Mann verkörpert den technischen Fortschritt - wie ihn sich der Fantast Jules Verne in der Zeit der Dampfmaschinen ausgedacht hätte.
Herr Mikrokosmos ist der Anführer einer Gruppe von Reisenden aus einer anderen Dimension, nämlich aus dem Reich Kuriosistan. "Kurios" ist der Name der Show des Cirque du Soleil, die nun erstmals nach Deutschland kommt. Der Titel kann mit seltsam, unerklärlich oder sonderbar übersetzt werden, vom Englischen "curious" auch mit neugierig oder forschend, und doch deutet er nur marginal an, was diese Revue an Rätselhaftem zu bieten hat. Nämlich echte Überraschungen, wenn nicht gar Wunder. Denn kaum zum Beispiel hat man sich an all diese unzähligen sonderbaren Geschöpfe, die einem Ziehharmonikazug in der Manege entspringen, gewöhnt, geht eine Klappe in Herrn Mikrokosmos' Kugelbauch wie ein Überraschungsei auf, und eine Frau steckt ihren Kopf samt Hut heraus.

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Wir reden hier nicht von einer Puppe, wie sie in Varietés gern eingesetzt wird. Hier taucht ein echter Mensch auf, eine richtige Dame, Mini Lili heißt sie, und sie verkörpert im Pariser Chic der Jahrhundertwende die Eleganz und die Poesie in diesem artistischen Kunstwerk. Offenbar lebt sie im Kugelbauch, man sieht einen Ohrensessel und eine ganze Salon-Einrichtung darin.

Wer sich nun haareraufend wundert, wie das möglich ist, wie der Mikrokosmos-Mann das alles schleppen kann, der ist genau richtig in dem Zirkuszelt, das gerade auf der Münchner Theresienwiese aufgeschlagen wird und das von Ende Januar einen Monat lang zum Kuriositäten-Kabinett wird. Solche Kammern gelten als Vorläufer von Museen. Die Mächtigsten und Reichsten bewahrten einst darin ein kostbares Sammelsurium auf: Artefakte, Kunstwerke oder Klimbim aus aller Welt, je seltener, exotischer und erstaunlicher, desto besser. Wissenschaft und Fantasie beflügelten sich hier gegenseitig.

So muss das auch beim Autor der Show "Kurios" gewesen sein. Michel Laprise (der Regisseur der "MDNA"-Welttour von Madonna) hat sich von den vier Masten des blaugelben Zeltes (des ältesten und größten aus dem Bestand des kanadischen Zirkus-Weltmarktführers) beflügeln lassen. Die erinnerten ihn an Antennen und an das 19. Jahrhundert, das goldene Zeitalter der Erfindungen, die die Gesellschaft und den Planeten noch nachhaltiger veränderten, als Internet und KI heute. Riesenreagenzgläser (mit einem behaarten Seepferd darin), Blitzanlagen, knuffige Roboter, eine gewaltige Turbine (auf deren Flügeln eine Band mit Electro-Swing und Manouche-Jazz das Geschehen antreibt), Fluggeräte - alles erscheint in diesem futuristisch-nostalgischen, Steampunk genannten Stil.

Laprise dachte sich für die neue Show einen Forscher und dessen Maschine aus, die Reisen in andere Dimensionen ermöglicht. Dort treffen er und das Publikum auf fantastische Wesen (die Kostüme übrigens sind die aufwendigsten von allen bisher 35 Cirque-Programmen): fünf Schlangenartige im gepunkteten Seegurkengewand, die sich unmenschlich verwinden, ein Hellseher mit Riesenhirn, Unsichtbare gar, die geisterhaft durch einen "Mini-Zirkus im Zirkus" tollen, ein Akkordeonmann, der ausgefahren sehr groß sein kann, aber auch sehr klein, und damit auf Augenhöhe mit der kleinen Dame.
Mini Lili wird gespielt von Rima Hadchiti, mit 100 Zentimetern und 20 Kilo ist sie einer der zehn kleinsten Menschen der Welt. Ihr Körper, bei dem alles in Proportion ist, nur sehr verkleinert, ist so besonders, dass ein eigener medizinischer Begriff für sie geschaffen wurde: "Rima-Syndrom". In Australien ist sie eine Berühmtheit, trat im Theater, in Burlesque-Shows und bei "Promi-Big-Brother" auf. Angebote von Zirkussen lehnte sie stets ab - "wegen des Stigmas kleinwüchsiger Leute", erklärt sie. Erst dem Cirque du Soleil sagte sie zu, eben weil der "keine Freak-Show" sei, sondern ihr Raum gab für echte Schauspielkunst - und sei es der Kugelbauch von Mister Mikrokosmos. "Es geht um Talent", sagt sie, "Talent hält echte Zirkusse am Laufen, keine beleidigenden Stereotype." Der Cirque du Soleil verkörpert für sie diesbezüglich die Speerspitze der Zirkus-Evolution.

Handwerklich sind die 49 Artisten ohnehin weit voraus: eine 16-köpfige Banquine-Saltotruppe, ein Jojo-Jongleur, ein Rola-Bola-Balanceur, ein Schleuder-Trapez-Duo, eine Luftakrobatin auf einem fliegenden Fahrrad und viele mehr zeigen nie gesehene Nummern, die grandios in die Steampunk-Szenerie gesetzt werden (sei es die Schlangenfrauen-Kunst auf einer mechanischen Riesenhand oder das auf einen Riesenballon projizierte, hinreißende Fingertheater des Spaniers Niko Baixas) oder gar allein für "Kurios" entwickelt wurden.

Michel Laprise hat nicht nur Artisten angeheuert, die erst gar nicht wussten wofür, er hat auch vorgegeben: "Wir machen mindestens drei Dinge, die erst einmal absolut unmöglich erscheinen." Eine Nummer ergab sich aus einem technischen Problem in einer anderen Show. Das Sicherheitsnetz unter dem Trapez hing dort zu schlaff, und so kam ihnen die Idee: Was, wenn wir das Problem noch größer machen, wenn wir das Netz einfach mal viel zu straff spannen? Siehe da: Es schnalzte die Artisten ordentlich nach oben. Das perfekte Spielfeld für Trampolinartisten wie Mathieu Hubener, einst Mitglied des französischen Junioren-Nationalteams. Sie probierten aus, was mit dem die ganze Manege überspannenden Netz möglich ist und katapultieren sich nun in der erstaunlichen "Acro-Net"-Nummer bis unters 20 Meter hohe Zeltdach. Ein Sicherheitsnetz haben sie dabei nicht mehr. "Wir passen auf uns gegenseitig auf", erklärt Hubener. Er ist übrigens in "Kurios" gut ausgelastet, in seiner Hauptrolle spielt er Mister Mikrokosmos. Von wegen ruhige Kugel ...
Cirque du Soleil "Kurios", Fr., 26. Januar, bis So., 25. Februar, München, Theresienwiese, www.cirquedusoleil.com