Bereitschaftspflege:14 Kinder in 15 Jahren

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"Wir sind die Diplom-Mütter": Marlene Trenker in ihrer Wohnküche. (Foto: Stefanie Preuin)

Marlene Trenker nimmt Babys bei sich auf, bis das Jugendamt eine Pflegefamilie gefunden hat. Sie weiß nicht, wie lange ein Kind bleibt. Sie weiß nur, sie muss es wieder abgeben. Wie hält man das aus?

Von Elisa Britzelmeier

Der Anruf kam an einem Herbsttag. Die Strampelanzüge waren gewaschen, der Kinderwagen stand bereit, sie ging ans Telefon. Es ist ein Kind geboren, sagte die Frau vom Jugendamt, wie jedes Mal. Marlene Trenker bat um Bedenkzeit, wie jedes Mal. Sie rief ihren Mann bei der Arbeit an. Das Jugendamt, sagte sie nur, er wusste Bescheid, er willigte ein. Sie sprach mit den Kindern nach der Schule, na gut, Mama. Dann sagte sie zu.

Sie fuhr ins Krankenhaus und da war es, das Kind, keine drei Tage alt, allein, die Stirn in Falten. Die Frau vom Jugendamt hatte das Nötigste gesagt: Das Kind ist gesund, wird nicht allzu lange dauern. Von der Mutter war ihm nichts geblieben. Keine Kleidung, kein Kuscheltier. Nur der Name. Mit dem leeren Kinderwagen fuhr Marlene Trenker zur Klinik, voller Vorfreude, mit dem Kind darin fuhr sie zurück.

Seitdem wartet sie auf den Tag, an dem sie das Kind wieder abgeben muss.

Mehr als sechs Monate sind vergangen, seit es zu Marlene Trenker kam. Sie heißt eigentlich anders, aber damit die leiblichen Eltern nicht plötzlich vor der Tür stehen, trägt sie hier diesen Namen. Auch das Geschlecht des Kindes darf nicht genannt werden. Es ist nicht das erste Baby, das Trenker aufnimmt. Sie arbeitet als Bereitschaftspflegemutter für das Münchner Stadtjugendamt, zu ihr kommen Findelkinder, Babyklappenkinder, Inobhutnahmekinder.

Es sind Kinder, bei denen die Eltern feststellen, dass sie sie nicht aufziehen können. Und Kinder, bei denen das Jugendamt feststellt, dass die Eltern sie nicht aufziehen können.

Marlene Trenker sitzt in ihrer Küche und vermatscht Bananen mit Avocados, klack klack klack macht die Gabel. Das Kind, neben ihr in der Babyschale, hat alles fest im Blick. Die Stirn zieht es nur noch selten kraus, nur manchmal, wenn das mit dem Essen nicht schnell genug geht. Es ist ein heller Raum, Wohnzimmer und Küche in einem, Lego in der Ecke, an der Wand hängt eine Gitarre. Trenker schiebt dem Kind den Löffel in den Mund, der Brei kommt zur Hälfte wieder raus. Sie sagt: "Manchmal geht's schon ganz gut, gell?" Auf dem Lätzchen steht "Ich schaffe das".

Wenn man so will, ist dieses Kind ihr vierzehntes. Marlene Trenker will das aber nicht so. Vor 15 Jahren hat sie angefangen als Bereitschaftspflegemutter. Wie viele Kinder es seitdem waren, daran erinnert sie sich nur, wenn sie eins nach dem anderen aufzählt. Das erste war ein Junge, dann kam ein Mädchen, Adoption, dann wieder ein Mädchen ... Gut, sagt sie schließlich, es werden wohl 14 Kinder gewesen sein.

Höchstens sechs Jahre alt sind die Kinder, die von Bereitschaftspflegekräften zu Hause betreut werden. 45 solcher Pflegemütter arbeiten für das Münchner Jugendamt, früher war ein Mann dabei, jetzt sind es nur Frauen. Es geht darum, die Zeit zu überbrücken, bis ein dauerhafter Platz in einer Pflege- oder Adoptivfamilie gefunden ist, oder bis die Kinder zurück zu ihren Eltern können. Wie kleine Wildtiere, die aufgepäppelt werden. Zu Marlene Trenker kommen die besonders Kleinen. Manchmal sind sie zwei Monate alt, manchmal nur einen Tag. Wie lange sie bleiben, weiß sie nie.

Trenker ist 53, ihre Haare haben erste graue Strähnen. Man hört ihr an, dass sie in Bayern aufgewachsen ist, und auf den Frühstückstisch kommt bei ihr Obazda. Wenn sie anderen von ihrem Job erzählt, hört sie immer den einen Satz, oft von Frauen: "Ich könnte das nicht, das Kind hergeben." Sie lacht, aber eigentlich ärgert sie das. Sie denkt dann immer, man würde ihr unterstellen, dass sie eine Rabenmutter ist. Eine, die Kinder einfach wieder hergeben kann. "So ganz gefühllos!"

Aber es fällt ihr nicht leicht. Bei jedem Kind denkt sie: Muss ich mir das antun?

Maximal sechs Monate sollte die Pflege dauern, aber in manchen Fällen bleiben die Kinder zweieinhalb Jahre. "Fälle ist kein schönes Wort", sagt Trenker und sucht nach einem schöneren: "Geschichten". Es sind Geschichten von drogen- und alkoholabhängigen Eltern, die endlich eine Therapie machen. Von psychisch kranken Müttern, die versuchen, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Von Großmüttern, die sagen, dass das Kind bei ihnen leben könnte. Alles prüft das Jugendamt, Gutachter über Gutachter, manchmal landet eine Geschichte vor Gericht, und bis alles geklärt ist, lebt das Kind bei der Bereitschaftspflegekraft. Seit 15 Jahren erlebt Marlene Trenker das, was Eltern nach der Geburt eines Kindes so mitmachen, nur immer wieder.

Sie bekommt etwa hundert Euro am Tag dafür, unversteuert, bezahlt werden nur die Belegungstage. Für die Besuche im Krankenhaus gibt es eine Pauschale, die in etwa die Kosten der Fahrkarte deckt. Manchmal sitzt sie da acht Stunden. Sie ist selbständig, nicht sozialversichert, nicht krankenversichert, nicht rentenversichert. Die Babys sind Tag und Nacht bei ihr, sie fahren mit in den Urlaub, schlafen bei ihr auf der Brust, manchmal fände sie es schön, wenn sie auch stillen könnte, aber gut, das ist rein hypothetisch. Jedes Mal, wenn ein Kind wieder weg muss, ist eine Pause vorgesehen, in der die Familie für sich bleiben soll. Kein Kind zu betreuen, heißt aber auch: keine Einnahmen. Ohne den Lohn ihres Mannes würde es nicht gehen.

Mit ihrem Mann ist Marlene Trenker seit vielen Jahren zusammen. Die ältesten, leiblichen Töchter sind erwachsen, eine der beiden zieht gerade aus, die andere ist längst ausgezogen. Dann sind da die jüngeren Kinder: der Adoptivsohn, 15, die Vollzeitpflegetochter, 8. Beide waren Bereitschaftspflegekinder. Und beide blieben. An der Tür der Familie stehen vier Nachnamen. Wenn man sie also nach der Zahl ihrer Pflegekinder fragt, zählt Marlene Trenker die leiblichen manchmal dazu, einfach, weil sie die Unterscheidung zwischen eigenen und anderen Kindern nicht mag.

14 Kinder in 15 Jahren. Zwölf davon gingen wieder. 14 Mal Nähe, zwölf Mal Abschied. Warum tut sie sich das an?

Sie ist mit acht Geschwistern aufgewachsen, alle haben Kinder, sie mag den Trubel. Anfangs wünschten sie und ihr Mann sich ein drittes Kind. Es muss kein leibliches sein, waren sie sich einig. Sie wollten adoptieren, merkten aber, dass das aussichtslos ist, wenn man eigene Kinder hat. Beim Jugendamt erfuhren sie vom Bereitschaftspflegemodell, Marlene Trenker gefiel, dass sie ihren Beruf einbringen konnte. Sie ist Erzieherin. In München haben alle Bereitschaftspflegekräfte eine pädagogische Ausbildung, Trenker hat im Kindergarten gearbeitet, in der Krippe, im Tagesheim. "Wir sind die Diplom-Mütter", sagt sie.

Es klingelt. Die älteste Tochter lebt in der Nähe, sie hat selbst ein Baby und kommt vorbei, um einen Bobbycar abzuholen und den richtigen Aufsatz für die Trinkflasche. Dem Kind in der Babyschale streicht sie über den Kopf, sie setzt sich kurz mit an den Tisch, dann muss sie wieder los, aber sie sehen sich ja sowieso bald wieder.

Ihre Arbeit, sagt sie, ist eine wichtige, sie gibt ihr Befriedigung. Bereitschaftspflege ist eine besondere pädagogische Herausforderung. Man hat mit Kindern zu tun, für die vieles schlecht gelaufen ist in ihrem Leben, auch wenn es noch ein kurzes Leben ist. Die meisten Babys spüren schon im Mutterleib, dass sie abgelehnt werden, sagen Kinderpsychiater. Manche haben Gewalt erlebt. Manche werden ihr Leben lang Krampfanfälle oder Herzfehler haben, sie werden aggressiv sein oder nie richtig sprechen können, weil die Mutter in der Schwangerschaft Alkohol trank.

Das Kind in der Küche sieht gesund aus, die Oberlippe geschwungen, der Kopf groß und rund, ganz anders als die typischen Fälle von fetalem Alkoholsyndrom, aber wer weiß, was die nächste Untersuchung ergibt. Es macht Marlene Trenker stolz, wenn sie spürt, was die Babys brauchen, ob sie im Tragetuch getragen werden wollen, ob sie gern kuscheln, ob sie Ruhe wollen. Wenn sie Auffälligkeiten bemerkt und die Kinder gezielt fördern kann. Sie schreibt Berichte an das Jugendamt. Manchmal erkennt sie etwas nicht, und wenn der Neurologe ihr sagt, dass ein Kind in der Entwicklung zurückgeblieben ist, denkt sie: blöder Arzt.

Es ist ihr wichtig, den Eltern keinen Vorwurf zu machen. Sie sagt nie: Die wollten nicht. Sie sagt immer: Die konnten nicht.

Einmal nahm sie ein Findelkind auf, das die Mutter mit einem Brief zurückgelassen hatte, warm eingepackt, mit der Bitte, gut zu sorgen für die Kleine. Es gab öffentliche Aufrufe, man suchte die Mutter. Dann wurde ein zweiter Brief gefunden. Sie weine die ganze Zeit, schrieb die Mutter, sie sei so unglücklich, aber sie könne einfach nicht. Marlene Trenker hat sie verstanden. Sie hat verstanden, wie sehr die Mutter litt, und sie findet, dass es Respekt verdient, wenn eine Mutter auf ihr Kind verzichtet, weil es ihm woanders besser geht. Sie sagt lange nichts. Dann sagt sie: "Die denkt nicht an sich." Sie hat Tränen in den Augen.

Marlene Trenker geht spazieren, es geht an Wiesen und einem See vorbei, das Kind liegt im Kinderwagen. Frösche quaken, sie nimmt das Kind aus dem Wagen, damit es die Frösche besser hören kann. Als eine ältere Dame das Kind sieht, ruft sie: "Dich nehmen wir ja gleich mit!" So etwas hört Trenker öfter. Das Kind fällt auf, es sieht asiatisch aus. Kolleginnen auf dem Land, sagt sie, erging es anders. Wenn sie ein schwarzes oder arabisch aussehendes Baby dabei hätten, hörten die zuletzt auch: "Für a gscheids hat's wohl nicht gereicht?"

Der Sohn ist aus der Schule zurück, Marlene Trenker fragt ihn, ob er gegessen hat. Was Mütter so fragen. Das Baby spielt mit einem Pinienzapfen. Trenkers Job ist es, ihm Geborgenheit zu geben, auf Zeit. Wird es ihr manchmal zu viel? Gibt es etwas, das sie nicht zulässt, um eine zu nahe Bindung zu verhindern? Sie streicht dem Baby still über die Wange, sie spricht lieber über die Kinder als über sich, davon, wie der Sohn immer einen gewissen Sicherheitsabstand wahrt und zugleich liebevoll ist. Davon, wie die Pflegekinder lernen, mit Abschieden umzugehen. "Man übt das." Es tue ihr heute nicht mehr so weh wie am Anfang.

Ein Satz ist ihr wichtig, eine Erkenntnis von Kinderpsychiatern: Man kann eine Bindung übertragen. Das Kind soll lernen, wie sich das anfühlt. Das bleibt. Mit Nähe ist es so wie mit der Liebe. Man wächst immer daran, sie ist immer schön, selbst dann, wenn sie nicht für immer sein kann.

Meistens konnte Marlene Trenker sich gut trösten, wenn neue Eltern für ein Kind gefunden waren und sie spürte: Das passt. Nur einmal hatte sie das Gefühl, dass es überhaupt nicht passt. Zuerst wirkten die Pflegeeltern lustig und spontan, aber in der Eingewöhnungszeit, der Anbahnungsphase, kam ihr der Vater so streng, so kleinlich vor, erwartete, dass schon ein einjähriges Kind Tischmanieren befolgt. Lag es am Lebensstil, der einfach so unterschiedlich war? Lag es an ihr, weil sie nicht loslassen konnte, nach Fehlern suchte? Sie meldete dem Jugendamt erst spät ihre Zweifel, sie hatte das Gefühl, nicht gehört zu werden. Der Pflegevater nannte sie eine Petze. Das Kind kam trotzdem in die neue Familie.

Warum also tut sie sich das immer wieder an? Weil es irgendwer machen muss, und weil sie es ziemlich gut macht, findet Marlene Trenker. Die Alternative wäre das Kinderheim. Allein schon wegen des wechselnden Personals würde das den Babys nicht so gut tun, sind sich Kinderpsychologen einig. Am Anfang sagten sich Trenker und ihr Mann: Vielleicht bleibt ja auch mal ein Kind dauerhaft bei uns. Es war gleich beim ersten so, und noch einmal bei einem. Jetzt ist klar: Mehr schaffen sie nicht. Die Wohnung ist zu eng, und Trenker fühlt sich mittlerweile zu alt. Aber wer weiß, vielleicht könnte, wenn das Jugendamt einmal keine Familie finden sollte, wirklich überhaupt keine - doch noch einmal ein Kind bei ihnen bleiben. Ausnahmsweise. Es würde eben bei Oma und Opa aufwachsen. Das haben andere auch schon überstanden.

Zum Abschied gibt sie den Kindern jedes Mal ein Fotoalbum mit. Sie klebt Bilder aus der gemeinsamen Zeit ein, aus dem Krankenhaus, legt das Bändchen dazu, das die Neugeborenen nach der Geburt um den Arm tragen. Das Album soll dem Kind helfen, später diese Zeit zu verstehen. "Biografiearbeit" nennen Psychologen das. Und ihr hilft es, Abschied zu nehmen.

Manche Adoptiveltern halten Kontakt, schicken Fotos vom Kind, nach einem Jahr, nach zwei Jahren. Manche trifft sie zufällig wieder, auf der Straße. Sie schreibt den Kindern zum Abschied, was sie ihnen für die Zukunft wünscht, und dass sie sich später immer melden können. Sie würde sich freuen. Bis jetzt hat sich noch keines gemeldet.

Die Zeit bei ihr, glaubt Marlene Trenker, ist in den neuen Familien der Kinder kein großes Thema mehr. Wenn sich die Mitarbeiterinnen im Jugendamt zusammensetzen, um Adoptiveltern zu finden, sagt sie, was sie gut fände für das Kind, erzählt, wie es im Alltag ist, dann muss sie den Raum verlassen, und die Verhandlung um die beste Familie beginnt. Danach wird sie die neuen Eltern kennenlernen, wahrscheinlich am selben Tag. Zwei Wochen lang werden sie zu Besuch kommen, ihren Alltag miterleben. Sie wird ihnen sagen, was das Baby braucht, was es mag und was nicht. Sie werden es im Tragetuch tragen, das Kind wird ihre Stimmen kennenlernen und ihren Geruch. Dann wird Trenker mit dem Baby die Familie besuchen, wieder und wieder.

Irgendwann kommt der Tag, der jedes Mal der schwierigste ist. Das Kind wird bei den neuen Eltern übernachten. Marlene Trenker wird zurückfahren und mit dem leeren Kinderwagen in der U-Bahn stehen. Vielleicht wird sie ein Tuch darüber hängen, damit sie die Leere nicht sieht. Als wäre da ein Kind, das einfach nur schläft.

© SZ vom 28.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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