Kritik:Niemals erwachsen werden

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Die Party geht weiter: Avril Lavigne, hier bei einem Konzert 2022 in Rio de Janeiro. (Foto: Buda Mendes/Getty Images)

Avril Lavigne hüpft im Zenith von Erinnerung zu Erinnerung, was viel kurzweiliger ist, als sich ihre Alben am Stück anzuhören.

Von Christian Jooß-Bernau

Ein Rauschen und Knacken. Der Sendersuchlauf eines Funkwellenempfängers. Lichter laufen über die zehn Orange-Gitarrenverstärker, die so modifiziert sind, dass sie auch als blinkende Beleuchtungsmaschinen und ihre Frontbespannungen als Projektionsfläche dienen. Sendersuchlauf und Licht rasten bei Joan Jetts "Bad Reputation" ein. Auf der Leinwand im Hintergrund eine Videoschnippselflut von Avril-Lavigne-Gesichtern. Und dann - bämm - steht sie im Scheinwerferkegel, was ein bisschen aussieht wie im James-Bond-Vorspann. Nur hat sie einen großen Strauß schwarzer Luftballons dabei, was lässiger wirkt als ein alter Mann mit Knarre.

Mit "Bite Me" vom aktuellen Album springt Avril Lavigne mittenrein ins Jetzt. Mach mich bloß nicht an, sonst scheppert's, das ist knapp zusammengefasst die Botschaft für den Lover oder einen, der sich dafür hält. Mit "What The Hell" geht's zur mittleren Karrierephase. Der Sound ist das für das Zenith, diese Industriekathedrale, typische hallende Bassbollern, das jede Feinheit frisst, aber Avril ist ja stimmlich mit einem Timbre von leicht metallischer Qualität gesegnet, das sich durchsetzt.

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Schon ist man bei "Here's To Never Growing Up", hymnisch reißt der Refrain das Publikum mit, und "Complicated", mit dem alles begann für das Skater Girl, das mit 16 seinen Plattenvertrag unterschrieb. Videoschnippsel-Avril, die kleine blonde Bühnenperson im schwarzen Flatter-Hoodie, Songs von gestern heute morgen, atemlos gereiht - schön, was hier erzählt wird: Alles passiert immer jetzt. Liebe und Hass, Verliebtheit und Trennung, Heirat und Scheidung. Zeit kann man anhalten, und Avril Lavigne ist heute noch Anfang Zwanzig. Maximal. Das ebenso junge Publikum, das schon 2021 und 2022 mit ihr hätte feiern wollen, wäre da nicht Pandemie gewesen, lässt eineinhalb Stunden die großen Luftballons hüpfen. Es ist Zauberei.

Die E-Gitarren von Dan Ellis und David Immerman klingen nicht nach Stahlsaiten und heißen Röhren, sondern nach etwas, was einige Male durch Prozessoren gemangelt wurde. Und auch wenn Avril sich zu "Wish You Were Here" eine akustische Gitarre umschnallt, ist die ins Poprock-Soundformat komprimiert. Als Girl war sie immer Chefin einer Boys-Gang wilder Lärmbolzen. Das Bild wird hier mit deckenden Farben so perfekt ausgemalt, dass kaum einmal über den Rand geschmiert wird. Außer beim Titelsong ihres neuen Albums "Love Sux".

Da setzt sich Avril ans Schlagzeug. Dass das, was sie da tut, mit diesem Hi-Hat-Bass-Drum-Dings und Hand-Fuß-Koordination nichts zu tun hat, sondern mehr ein rhythmisches Klopfen ist - auch dies ist als kleiner Kontrast zur alles umspannenden Professionalität sympathisch. Genauso wie die Coverversion des Blink-182-Songs "All The Small Things", zu der sie noch einmal ihre Support Acts, die hibbelig poprockende Phem und den Sänger der Band Girlfriends bittet. Letztere hatten eine eigenartig abgezockte Show mit allen Animationsmätzchen zu Backing-Tracks geliefert, um dann eigentlich angenehm rückstandslos von der Bühne zu verschwinden.

Bei Avril funktioniert zwischen den Songs der Show und dem Publikum die Rückkopplung. Mit diesem Girl hat man Lebensmomente geteilt. Glückliche Gesichter. So hüpft Avril von Erinnerung zu Erinnerung, was viel kurzweiliger ist, als sich ihre Alben am Stück anzuhören, wo man neben den griffigen Nummern immer auch durch einen Schwung totaler Redundanz muss. "Sk8ter Boi" als letzter Song vor den Zugaben ist noch einmal ganz große Party mit Konfetti-Kanonen. Dann wird es mit "Head Above Water" und "Avalanche" kurz besinnlich, weil nicht alles im Leben immer frech und lustig sein kann, bevor sie ihrem Publikum die ewige Liebe verspricht: "I'm With You". Zeit ist ein Kreis, und Avril ist ein junges Mädchen auf der Bühnenleinwand, das mit großen Augen über ihren Erfolg staunt.

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