Eva Umlauf steht an dem Ort, an dem sie hätte sterben sollen. So wollten es die Nationalsozialisten. Sie deportierten die knapp zweijährige Eva und ihre Eltern nach Auschwitz-Birkenau, im November 1944 war das. Jetzt, gut 78 Jahre später, steht Eva Umlauf in dem Gebäude, das sie damals "Sauna" nannten. "Liebe Naomi", so beginnt sie ihre Rede.
Sie freut sich, dass ihre Enkelin dabei ist. Naomi ist 19 Jahre alt, sie ist eigens aus den USA gekommen, wo sie mit ihrer Familie lebt, um ihre Oma zu begleiten, die als Überlebende des Konzentrations- und Vernichtungslagers am Gedenktag der Befreiung eine Rede hält. Jedes Jahr treffen sich Ende Januar Überlebende an diesem Ort, es werden jedes Jahr weniger. Eva Umlauf lebt seit den Sechzigerjahren in München.
Am 27. Januar 1945 öffneten sowjetische Truppen die Tore von Birkenau, und am 27. Januar 2023 sagt Eva Umlauf: "Ich verstehe mich als Gefühlserbin und als eine Friedensarbeiterin." Sie steht im Saal vor einer Wand voller Fotografien; man fand sie im Gepäck derer, die von den Nationalsozialisten nach Auschwitz deportiert worden waren. Es sind Aufnahmen, wie sie an Wohnzimmerwänden hängen oder auf der Kommode stehen könnten, Fotos aus vielen früheren Leben.
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Eva Umlauf spricht über ein "Leben mit der inneren Zerstörung durch Auschwitz" - und meint damit nicht ihr eigenes, sondern das ihrer geliebten Mutter. Ihr setzt Eva Umlauf ein gesprochenes Denkmal an diesem Tag in Birkenau, dem Vernichtungslager, auch Auschwitz II genannt. Es ist heute Teil des Museums Auschwitz-Birkenau am Rande der Stadt Oświęcim, das ist der polnische Name von Auschwitz.
Eva Umlauf ist eine der jüngsten Überlebenden, eigene Erinnerung an das Lager hat sie nicht. Am 3. November 1944 kam sie in Birkenau an, kurz nachdem die Nationalsozialisten aufgehört hatten, Mütter mit ihren Kindern sofort zu töten, das Lager war schon in Auflösung.
Dass Eva Umlauf überlebte - war es Zufall, war es Glück? Als "Wunder" galt das Mädchen später, Eva Umlauf erinnert sich, was die Leute zu ihr sagten. Ein Wunder? Das fand das Kind toll. Längst weiß sie, dass das Weiterleben seinen Preis hatte. Ihre Mutter Agnes hatte ihn zu zahlen.
Eva und ihre Mutter waren die einzigen ihrer jüdischen Familie, die überlebten. Ihr Vater Imro wurde kurz vor der Befreiung auf einen der Todesmärsche geschickt, ermordet wurde er in Österreich. Eva Umlauf erinnert sich nicht an ihn. Dass er angeblich an Blutvergiftung starb, hat sie erst vor ein paar Jahren herausgefunden, bei den Recherchen zu ihrer Autobiografie. "Meine Mutter dagegen lebte mit der Unsicherheit über den Verbleib meines Vaters." Wie war er gestorben? Hatte man ihm Gewalt angetan?
Die Mutter war schwanger, als die Familie nach Auschwitz deportiert wurde, noch im Lager kam Evas Schwester Nora zur Welt, das war im April 1945. Erst danach kehrten sie heim in die alte Heimat, die heutige Slowakei. Die Mutter habe den Schwestern eine fast normale Kindheit ermöglicht, sagt Eva Umlauf. Wie hat sie das geschafft? Das sei ihr ein Rätsel.
Daheim habe es ein Tabu gegeben. Auschwitz, die Shoah - "es wurde auch in unserer Familie so gut wie nicht darüber gesprochen, es konnte nicht darüber gesprochen werden". Als Kinder hätten sie nicht gewagt, die Mutter darauf anzusprechen oder zu fragen, wo die Großeltern sind, oder Franzi, Poldi, Berti, die Geschwister der Mutter. "Wir wollten keine verstörte, traurige Mutter", sagt Eva Umlauf, es waren ja alle ermordet worden. Auschwitz-Verwundete tragen das Erlebte immer in sich. "Wo meine Mutter das ganze Entsetzen, die große Angst und die tiefe Trauer über Verluste in sich aufbewahrte, wissen wir nicht."
Im Ruhestand, da lebten Mutter und Tochter längst in München, litt die Mutter an Depressionen. Die Tochter, von Beruf Psychotherapeutin, ist sich sicher, dass die Krankheit eine Folge der Entwürdigung und Entmenschlichung gewesen sei. 1995 starb die Mutter, "an den Spätfolgen von Auschwitz".
Und jetzt ist es Eva Umlauf, die diese "Gefühlserbschaft" in sich diagnostiziert. "Für mich ist Auschwitz ein traumatisierender Bestandteil meiner Biographie." Da ist die Freude über das eigene Überleben, aber auch dieses Gefühl, von dem viele Überlebende berichten: "Ich fühle mich manchmal einfach schuldig für mein Überleben."
Das Innehalten an diesem Jahrestag hat an der "Todeswand" begonnen, im sogenannten Stammlager Auschwitz I. Dort erschossen die Nationalsozialisten unzählige Häftlinge. Eine kleine Gruppe Überlebender entzündet Kerzen. Das Gedenken endet in Birkenau, nur einen Steinwurf von der "Sauna" entfernt. Zu sehen sind hier nur noch ein paar niedrige Grundmauern eines einst großen Gebäudes. Es war eine der Gaskammern, angeschlossen war ein Krematorium. Die SS zerstörte das Gebäude kurz vor der Befreiung, sie wollte Spuren verwischen. Eva Umlauf sitzt auf einem der Stühle, es ist kalt, neben ihr steht Naomi. Oma und Enkelin, was für ein Symbol. Nicht der Tod hat obsiegt, sondern das Leben.
Das belastende Erbe von Auschwitz wolle sie nicht weitergeben, hat Eva Umlauf kurz zuvor gesagt. Deshalb habe sie irgendwann einmal den Entschluss gefasst, das Erlebte und seine Folgen zu thematisieren, "ihm nachzuspüren, es anzusprechen, mich mit anderen darüber auszutauschen". Deshalb hat sie eine Autobiografie geschrieben, deshalb ihre Rede in Auschwitz und die vielen Besuche in Schulen, deshalb ihr Einsatz "für eine menschliche, respektvolle und friedliche Zukunft".
Das alles sagt Eva Umlauf in der "Sauna", in dem sich die neu Angekommenen ausziehen mussten, zum Duschen. Es waren jene, die an der Rampe nicht selektiert und sofort ermordet worden waren. Am Ende ihrer Rede bedankt sich Eva Umlauf bei den Anwesenden: "Ihr konzentriertes Da-Sein ermutigt mich, den eingeschlagenen Weg zur Verständigung weiterzugehen."