Geschichte:Die Deuterin der Keilschrift

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Karen Radner ist Humboldt-Professorin für die Alte Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens an der LMU und Expertin für das alte Assyrien. (Foto: Stefan Höck/LMU)

Karen Radner ist Expertin für das alte Assyrien. Sie kennt die erste Supermacht der Geschichte so gut wie nur wenige Forscher. Vor Kurzem kehrte sie von den Ausgrabungen im Irak zurück. Ihre Erlebnisse dort verfolgten sie bis in ihre Träume.

Von Martina Scherf

Nachdem Karen Radner im Frühjahr aus dem Irak zurückgekehrt war, hat sie wochenlang von dieser Reise geträumt. Es waren keine Träume von Märchen, Mythen oder Palästen, die sie als Forscherin entdeckt hätte. Nein, es waren die Geschichten der Menschen, denen sie begegnet war, die sie bis in den Schlaf verfolgten.

Die Orientalistin ist Expertin für das alte Assyrien. Das war einst das kulturelle Zentrum der Welt. Die früheste Supermacht in der Geschichte. Ein multikulturelles Reich, das sich vom heutigen Iran bis nach Ägypten erstreckte, mit den ersten Großstädten und urbanem Leben. Seine Bewohner hinterließen ganze Bibliotheken in Keilschrift, deshalb können Forscher von heute vieles mitlesen, was damals gedacht und geschrieben wurde. Karen Radner gehört zu den wenigen Spezialisten, die Keilschrift lesen können. Tausende Tontafeln hat sie schon entziffert. Und sie ist überzeugt davon, dass die Geschichte Europas und die des Vorderen Orients viel enger zusammenhängen als gemeinhin bekannt. "Würden wir das verstehen, sähe unser Blick auf die Region anders aus", meint sie.

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Die 51-Jährige hat an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) eine Humboldt-Professur für die Alte Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens. Das ist die höchste deutsche Wissenschaftlerauszeichnung. Zuletzt kam noch der Leibniz-Preis dazu, mit dem damit verbundenen Geld konnte sie ihr neues Vorhaben finanzieren: die Ausgrabung der Neustadt von Assur. Fünf Mal war sie allein im vergangenen Jahr in der Stadt am Tigris, um das Projekt vorzubereiten.

"Ich freue mich riesig, dass ich jetzt wieder an dem Ort forschen darf, wo meine wissenschaftliche Laufbahn begann", sagt die Professorin, während sie in ihrem Büro einen Tee aufbrüht und zwei Pains au chocolat auf Teller verteilt. Schon als Studentin analysierte sie am Berliner Pergamonmuseum Texttafeln aus Assur. Die Begeisterung für die Kultur der Assyrer ließ sie nicht mehr los.

Gemessen an ihrer Reputation ist ihr Büro sehr bescheiden

Gemessen an ihrer wissenschaftlichen Reputation ist das Büro im Historicum der LMU an der Schellingstraße klein und unscheinbar, alles andere als ein Chefzimmer. Aber die Forscherin ist sowieso am liebsten draußen, im Feld und im Kontakt mit Menschen. In Jeans und Baumwollhemd setzt sie sich auf das kleine Sofa, über ihr an der Wand hängen Landkarten von dem Land zwischen Euphrat und Tigris. Irak, Iran, Türkei, Syrien, die Länder sind ihr vertraut.

Vor mehr als 100 Jahren begannen deutsche Forscher mit der Ausgrabung der Stadt Assur im Irak. Noch immer sind Markierungslinien von damals in der Bildmitte zu erkennen. Karen Radner und ihr Team haben im März 2023 mit ihrer Arbeit begonnen und wohnen auch auf dem Gelände. (Foto: Jens Rohde)

Vor 20 Jahren war Radner schon einmal in Assur. Dann überfielen die Amerikaner den Irak. Die Historikerin forschte danach in Syrien, bis auch dort Krieg herrschte, und dann zwölf Jahre lang im kurdischen Nordirak. Und jetzt also wieder Assur. "Leider hat sich das Land durch das jahrelange Embargo und den Krieg komplett verändert", sagt Radner. Anders als früher, als der Irak viele internationale Kontakte unterhielt, Investoren ins Land lockte, Bildung förderte, auch für Mädchen, sei er heute isoliert und ruiniert. "Es ist schrecklich, das zu sehen", sagt Radner. Auf dem Land dürften Frauen das Haus nicht mehr verlassen, aus Angst, es könnte ihnen etwas zustoßen, kaum jemand spreche dort noch Englisch. Nur die Gastfreundschaft, die sei geblieben.

Die Ausgrabung der Neustadt von Assur liegt in der Wüste. Radner blättert durch die Fotos auf ihrem Laptop. Kein Baum, kein Strauch weit und breit. Bevor die Wissenschaftler mit ihrer Arbeit beginnen konnten, musste erst das Haus wieder hergestellt werden, in dem alle zusammen wohnen, das Team aus München, eines von der Uni Münster, kurdische und irakische Mitarbeiter. Das Gebäude hatten deutsche Forscher schon vor mehr als 100 Jahren errichtet. Terrorgruppen des Islamischen Staates hatten es vor einigen Jahren schwer beschädigt.

"Das sind Erlebnisse, die können wir uns gar nicht vorstellen."

Es gibt einen Koch, einen Fahrer, einen Hausmeister und abends wird zusammen gegessen. "Da lernt man sich natürlich auch privat kennen. Und ab und zu wird man dann nach Hause eingeladen", sagt Radner. Dort hörte sie die Geschichten, die ihr den Schlaf raubten. Von Angriffen des IS, von Gewalt gegen Frauen, von Verletzungen und jahrelanger Kriegsgefangenschaft. "Das sind Erlebnisse, die können wir uns mit unseren behüteten europäischen Biografien gar nicht vorstellen", sagt sie.

Nicht nur die Infrastruktur und viele Kulturgüter seien durch den Krieg zerstört worden. Auch die Seelen der Menschen seien schwer verwundet. Wenn sie davon erzählt, spürt man, wie nahe ihr die Erlebnisse gehen.

Karen Radner (rechts) und ein Teil ihres Teams im März 2023 mit einem Fundstück aus Assur: ein Sarkophag mit aramäischer Inschrift. (Foto: LMU)

Strom gibt es nur etwa vier Stunden am Tag. "Da überlegt man sich gut, ob man den Wasserkocher einschaltet", sagt sie. Dieselgeneratoren rattern stundenlang, damit die Computer laufen. "Ich habe jetzt Sonnenkollektoren bestellt", sagt Radner. Auch um solche Dinge kümmert sich die Historikerin. Es sei ohnehin nur im Winter möglich, in der Wüste zu arbeiten. "Im Sommer herrschen da Temperaturen von 50 Grad. Wir würden das vielleicht noch aushalten, aber unsere Computer nicht." Und noch etwas habe sich verändert: "Als ich vor gut 20 Jahren dort war, war der Tigris ein mächtiger Strom. Jetzt führt er hinter Assur kein Wasser mehr." Der Klimawandel. "Die Menschen müssen ihre Heimat verlassen, weil sie dort nicht mehr leben können." Sie habe Bauern getroffen, die ihre Rinder, das wertvollste Gut, schlachten mussten, weil sie kein Weideland mehr hatten.

Einmal in Fahrt, ist ihr Redefluss kaum zu stoppen

Radner ist eine temperamentvolle Frau, einmal in Fahrt, ist ihr Redefluss kaum noch zu stoppen. Aber warum ist Assur überhaupt so bedeutend? Die Neustadt entstand zur Blütezeit des damaligen Riesenreichs, und das war ein äußerst effizientes Staatswesen, das 300 Jahre überdauerte. "Mit einem assyrischen Beamten oder Gelehrten um 700 vor Christus könnten wir uns bestimmt sehr niveauvoll über Probleme unserer Zeit unterhalten, von Finanzkrise, multikultureller Gesellschaft und Migration bis hin zum Klimawandel", sagt sie.

Das Reich sei organisiert gewesen fast wie ein internationaler Konzern. Mit Statthaltern und Niederlassungen, verschiedenen Sprachen, Sitten, Religionen. Mit einem beschleunigten Postwesen. "Damit man Briefe schneller über große Distanzen transportieren konnte, brauchte man mehrere Boten. Um Untreue zu verhindern, wurden die Tontäfelchen versiegelt. Mit einer Hülle aus Ton, in die Absender und Adresse graviert wurden", erklärt die Historikerin und zieht ihr Handy raus, um das zu erklären: Das Handy ist das Tontäfelchen, die Hülle der Umschlag. Den konnte erst der Empfänger öffnen. "Wie das technisch genau funktionierte, die zwei Tonschichten so zu verbinden, wissen wir immer noch nicht."

Die Tontäfelchen überdauerten die Jahrtausende, sie erzählen vom Leben der damaligen Zeit. Von Eheverträgen, Leihmutterschaft und Eunuchen. Beamte in entlegenen Regionen wurden kastriert, damit sie sich nicht mit der lokalen Bevölkerung mischten. "An die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hat man wohl nicht geglaubt", sagt Radner. Strafen für Abweichler waren so brutal wie im europäischen Mittelalter, Pfählung und Häutung gehörten dazu. Andererseits wurden Künste und kulturelle Vielfalt gefördert. "Und jedes Haus in der Stadt hatte ein Badezimmer und einen eigenen Backofen, was andernorts keineswegs selbstverständlich war."

Die Wissenschaftler sammeln auch menschliche und tierische Knochen, Zähne, Pflanzen, Baumaterialien und Alltagsgegenstände. Anders als die Orientforscher aus früheren Zeiten, die einfach alles mitnahmen, was ihnen wertvoll erschien und in europäische Museen stellten, dürfen Radner und ihr Team die Objekte aber nur ausleihen. Sie werden in München, Tübingen, Leipzig mit modernster Technik wie DNA-Analysen untersucht. "Das wird uns helfen, ein viel genaueres Bild von den Lebensumständen der Leute in Assur vom 9. bis ins späte 7. Jahrhundert vor Christus zu entwickeln, als es bislang möglich war", freut sich die Assyrologin.

Schon als Kind hat sie sich für Ausgrabungen interessiert

Karen Radner wuchs in Hallein bei Salzburg auf, wo eine der bekanntesten Siedlungen der Eisenzeit ausgegraben wurde. "Das hat mich schon als Kind fasziniert", erzählt sie mit ihrem weichen österreichischen Akzent. Mit den Eltern fuhr sie als Teenager nach Syrien. Klassischen Urlaub hätten sie nie gemacht, "es ging immer darum, andere Kulturen kennenlernen". Sie hat dann in Wien und Berlin studiert, sich an der LMU habilitiert und danach zehn Jahre lang am University College in London geforscht. Mit ihrem Mann, einem Niederländer und ebenfalls Keilschriftforscher, kehrte sie nach München zurück, als der Ruf für die Humboldt-Professur kam. Er habe, sagt sie, zu ihren Gunsten auf seine Karriere verzichtet. Der gemeinsame Sohn ist 13. "Ohne den Rückhalt meiner Familie könnte ich das nicht leisten, was ich mache. Aber nur vom Computer aus zu arbeiten, wäre für mich unvorstellbar."

Sie hat sich jetzt so in Fahrt geredet, dass das süße Gebäck kaum berührt, die Teetasse noch halb voll ist. Wenn sie das nächste Mal unter der sengenden Sonne im Irak vor den Ruinen steht und sich freut, endlich wieder da zu sein, dann warten Mann und Sohn zu Hause. Und in ihrem Forscherteam beschäftigt die Professorin mehrheitlich Frauen. Beides ist im Irak unvorstellbar. Dass das Land so konservativ geworden sei, dass Mädchen und Frauen in den ländlichen Regionen kaum auf die Straße gelassen würden, darüber kann sie sich richtig aufregen. "Ich bin ja nicht nur Wissenschaftlerin, sondern auch Mensch."

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