Amoklauf in München:Ohne Armela, ohne Selçuk, ohne Roberto, ohne Sevda

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Ein Schild mit der Aufschrift 'Rest in Peace' steht am vor dem Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München. (Foto: dpa)

Ein Jahr nach dem Amoklauf in München hören Betroffene immer noch Schüsse. Auch Menschen, die die neun Opfer nicht kannten, brauchen Hilfe.

Von Anna Hoben

Dreihundertfünfundsechzig Tage: Ein Jahr ist eine lange Zeit in unserer schnellen Gegenwart. Für Menschen, die in der Trauerverarbeitung stecken, ist ein Jahr allerdings kurz. Erst ein Weihnachten hat es gegeben ohne das geliebte Kind, erst ein Silvester, Ostern oder Zuckerfest zum Abschluss des Ramadan. Erst einen Geburtstag ohne die Hauptperson, das Geburtstagskind. Ohne Armela, ohne Selçuk, ohne Roberto, ohne Sevda. Ihre Familien werden sich nie daran gewöhnen können, dass sie nicht mehr da sind. Aber sie werden lernen, damit zu leben.

Am 22. Juli 2016 packte ein psychisch kranker 18-Jähriger eine Waffe in seinen Rucksack und fuhr zum Olympia-Einkaufszentrum (OEZ). Er erschoss neun Menschen und am Ende sich selbst. Seine Opfer waren Jugendliche wie er, 14 bis 20 Jahre alt, und eine erwachsene Frau, alle mit Migrationsgeschichte. An diesem Samstag jährt sich der Amoklauf zum ersten Mal. Um 10 Uhr gedenkt die Stadt München am OEZ der neun Menschen, die aus dem Leben gerissen wurden.

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Manche Opferfamilien werden dabei sein, andere haben die Stadt für den Tag verlassen. Für die Angehörigen ist er ein höchst bedeutsames Datum - und ein höchst schwieriges. "Jahrestage haben es in sich", sagt Psychotherapeut Simon Finkeldei. Sie sind wie eine Bodenwelle, die einen komplett durchrüttelt. "Sie sind aber auch ein Gradmesser, der zeigt, wie weit jemand schon ist in der Verarbeitung."

Über die Kinderstiftung Aetas haben Finkeldei und seine Kollegin Tita Kern, eine Psychotraumatologin, einige der Opferfamilien seit dem 22. Juli 2016 begleitet. Die Münchner Stiftung, die sich über Spenden finanziert, hilft Kindern und Jugendlichen, die Traumatisches erlebt haben - schnell, unbürokratisch, kostenlos.

65 junge Menschen, die vom Amoklauf betroffen waren, hat sie im vergangenen Jahr betreut: Geschwister und Freunde der Opfer, auch Augenzeugen oder Kinder, die regelmäßig Einrichtungen nahe dem OEZ besuchen, etwa Kindergärten oder Jugendzentren.

An jenem Abend waren Tita Kern und Simon Finkeldei gerade im Auto unterwegs, als sie per Radio hörten, was passiert war. Die Kinderstiftung meldete sich mit vier Mitarbeitern zum Einsatz: Drei fuhren zum Nothilfezentrum in der Werner-von-Linde-Halle, Tita Kern direkt zum OEZ. "Kinderkrisenintervention" nennt sich die Arbeit der Psychologen und Pädagogen etwas sperrig. Konkret sah das an dem Abend etwa so aus, dass Kern mit den Kindern zusammen schaute, wie viele Polizistenstiefel um sie herum zu sehen waren. "Wir haben Sicherheit gezählt."

Simon Finkeldei und seine Kollegin Tita Kern haben einige der Opferfamilien seit dem 22. Juli 2016 begleitet. (Foto: Catherina Hess)

15 Mitarbeiter hat die Aetas-Stiftung, alle mit einer Trauma-Fachausbildung. Neben den Kindern haben sie nach dem Amoklauf auch 152 persönliche Bezugspersonen (Eltern, Verwandte) und 133 professionelle Bezugspersonen (Erzieher, Lehrer) begleitet. Denn wie es ihnen geht, hat viel damit zu tun, wie die Kinder sich fühlen. "Wir wissen aus vielen Studien, dass die Stabilität der Großen einen sehr starken Vorhersagewert dafür hat, wie Kinder Dinge verarbeiten", sagt Finkeldei.

Menschen werden nicht zwangsläufig krank, wenn sie schlimmste Dinge erleben, betont er. "Nicht einmal, wenn ihnen jemand mit einer Waffe auf den Kopf zielt oder sie um ihr Leben rennen müssen. Und trotzdem hat so ein Ereignis genug Wucht, um Menschen krank zu machen."

Um dem vorzubeugen, ist es wichtig, sich Hilfe zu holen. Gefühle wie Angst und Hilflosigkeit sind bei Kindern stärker ausgeprägt, sagt Kern. Sie brauchen jemanden, der ihnen zeigt, wie man damit umgehen kann. "Solche Dinge liegen ganz klar außerhalb der normalen Elternkompetenz. Deshalb gehen wir einen Schritt vor den Eltern, damit die einen Schritt vor ihren Kindern gehen können."

In den Wochen vor dem Jahrestag ist das Bedürfnis nach professionellen Vorausgehern wieder gewachsen. Einige Angehörige haben sich wieder häufiger gemeldet, mit manchen hatten die Begleiter wöchentlich Kontakt. Die einen sind in dieser Zeit besonders traurig und nachdenklich, andere fühlen sich stark belastet und gestresst.

Die öffentliche Aufmerksamkeit steigt wieder, die Presse berichtet, und im ZDF wurde vor Kurzem eine Dokumentation gezeigt, in der eine Opferfamilie erzählt, wie sie mit dem Verlust umgeht. Viele andere Betroffene wollten danach darüber sprechen, was der Film bei ihnen ausgelöst hat.

In den Gesprächen ging es aber auch ganz konkret um die Gestaltung des Jahrestages. Ist es besser, sich zurückzuziehen und den Tag mit eigenen Ritualen im kleinen Kreis zu begehen, oder an der öffentlichen Gedenkveranstaltung teilzunehmen? "Eine Patentlösung gibt es nicht", sagt Tita Kern. "Bei manchen erzeugt die Vorstellung Stress, mittendrin zu sein und viele Menschen um sich zu haben, andere schreckt die Vorstellung ab, abgeschnitten zu sein und nichts mitzubekommen."

Die Begleiter haben mit den Familien überlegt, was die individuell beste Lösung ist. Und haben ansonsten getan, was sie immer tun, Kern beschreibt es so: "Helfen, den Kopf zur Ruhe zu bringen und dem Herzen Sicherheit zu vermitteln."

Dass Kopf und Herz sich um den Jahrestag herum wieder schwerer tun, dass viele Betroffene sich wieder mutlos und verzweifelt fühlen, "das ist normal und gehört dazu", sagt sie. Bei manchen Kindern kommen plötzlich die alten Albträume wieder, obwohl es schon viel besser geworden war. Andere werden leicht reizbar. Auf dem Pausenhof erzählen Mitschüler Geschichten von jenem wilden, aufregenden Abend, der für sie selbst nur entsetzlich und traurig war. Ein erwachsener Mann ist plötzlich schweißgebadet, weil er Menschen in der Stadt zur Trambahn rennen sieht, so wie sie damals gerannt sind, vor einem Jahr.

Oft denken die Betroffenen dann, dass alles, was sie sich über das Jahr hinweg an Stabilität erarbeitet haben, vergeblich gewesen ist, dass sie keinen einzigen Schritt nach vorne gemacht haben. "Das mag sich gerade so anfühlen, aber es ist nicht so", sagt Tita Kern. "Dass es gerade schwieriger ist, gehört dazu."

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Auch das Denkmal, in dessen Gestaltung die Familien miteinbezogen wurden, wurde immer wieder thematisiert. "Es ist für die Betroffenen immens wichtig, dass sich die Stadt zu den Verlusten verhält", weiß Simon Finkeldei. Doch was dieser Ort für sie konkret bedeutet, ist ebenso wie der Umgang mit dem Jahrestag höchst unterschiedlich.

"Für die einen war das OEZ nach dem Amoklauf ein Ort der Verbundenheit, mit dem Verstorbenen und mit anderen Trauernden", sagt Peter Zehentner, der das Kriseninterventionsteam (KIT) leitet, dessen 60 Mitarbeiter in der Woche nach dem Amoklauf rund um die Uhr im Einsatz waren. "Für andere ist es nur ein Ort des Grauens, und wieder andere sind ambivalent."

Eigentlich hasse er den Ort, sagt Arbnor Segashi, 22, der Bruder der mit 14 Jahren getöteten Armela Segashi, in dem ZDF-Film "Im Schatten des Verbrechens". Aber es ist eben auch der letzte Ort, an dem seine Schwester war. Er geht am liebsten nachts hin, um ungestört zu trauern.

Das Kriseninterventionsteam wurde vor knapp 20 Jahren gegründet. Dahinter steckte die Idee, dass nach traumatischen Ereignissen auch die Seele Erste Hilfe braucht. Nach dem Amoklauf überbrachte das KIT den Familien die Todesnachrichten und briefte 50 Schulpsychologen, damit diese am Montag an den richtigen Schulen die richtigen Informationen übermitteln konnten.

Der Einsatz war auch für das Team in vielerlei Hinsicht besonders. Anders als sonst blieb der KIT-Sonderstab eine Woche bestehen. Und zum ersten Mal wurde danach nicht nur Supervision für die ehrenamtlichen Einsatzkräfte angeboten, sondern auch für deren Angehörige. Schließlich ließen sie ihre Partner in eine potenzielle Terrorlage gehen.

Auch heute melden sich noch immer Augen- oder Ohrenzeugen beim KIT. Oft hilft es ihnen schon zu hören, dass es nicht nur ihnen so geht, dass sie nicht verrückt sind, wenn sie immer wieder Schüsse hören, dass das eine "normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis" ist, wie Peter Zehentner immer wieder betont. Leider melden sich Betroffene häufig erst spät, zum Beispiel, weil sie sich schämen und denken, es müsste ihnen längst wieder gut gehen.

Peter Zehentner leitet das Münchner Krisen-Interventions-Team. (Foto: Catherina Hess)

Doch ein Trauma kann chronisch werden und zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führen. Oder einen Menschen völlig aus der Bahn werfen. Zehentner weiß von einer Ohrenzeugin, deren Haus an jenem Abend von der Polizei gestürmt wurde. Die Ereignisse belasteten die Frau so stark, dass sie in der Folge erst ihren Job und dann ihre Wohnung verlor. "Wer merkt, es wird nicht besser, der sollte sich Hilfe holen, auch jetzt noch."

Am Ende, sagt er, hatte die Schreckensnacht doch immerhin ein Gutes: Die Menschen in der Stadt standen zusammen. Sie haben einander geholfen und beschützt, so lange, bis die Polizei Entwarnung gab. "Wir haben gemerkt, dass wir als Stadtgesellschaft ganz gut funktionieren."

Ein Jahr ist keine allzu lange Zeit, wenn man trauert. Die Nacht des 22. Juli 2016, sie wird nun immer zu München gehören. Die Wunden heilen nur sehr langsam.

Wer Beratung sucht oder das Gefühl hat, Hilfe zu benötigen, kann sich an die Münchner Telefonseelsorge wenden. Sie ist rund um die Uhr zu erreichen unter der Nummer 0800/111 0 111 (evangelisch) oder 0800/111 0 222 (katholisch).

© SZ vom 22.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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