Dreihundertfünfundsechzig Tage: Ein Jahr ist eine lange Zeit in unserer schnellen Gegenwart. Für Menschen, die in der Trauerverarbeitung stecken, ist ein Jahr allerdings kurz. Erst ein Weihnachten hat es gegeben ohne das geliebte Kind, erst ein Silvester, Ostern oder Zuckerfest zum Abschluss des Ramadan. Erst einen Geburtstag ohne die Hauptperson, das Geburtstagskind. Ohne Armela, ohne Selçuk, ohne Roberto, ohne Sevda. Ihre Familien werden sich nie daran gewöhnen können, dass sie nicht mehr da sind. Aber sie werden lernen, damit zu leben.
Am 22. Juli 2016 packte ein psychisch kranker 18-Jähriger eine Waffe in seinen Rucksack und fuhr zum Olympia-Einkaufszentrum (OEZ). Er erschoss neun Menschen und am Ende sich selbst. Seine Opfer waren Jugendliche wie er, 14 bis 20 Jahre alt, und eine erwachsene Frau, alle mit Migrationsgeschichte. An diesem Samstag jährt sich der Amoklauf zum ersten Mal. Um 10 Uhr gedenkt die Stadt München am OEZ der neun Menschen, die aus dem Leben gerissen wurden.
Manche Opferfamilien werden dabei sein, andere haben die Stadt für den Tag verlassen. Für die Angehörigen ist er ein höchst bedeutsames Datum - und ein höchst schwieriges. "Jahrestage haben es in sich", sagt Psychotherapeut Simon Finkeldei. Sie sind wie eine Bodenwelle, die einen komplett durchrüttelt. "Sie sind aber auch ein Gradmesser, der zeigt, wie weit jemand schon ist in der Verarbeitung."
Über die Kinderstiftung Aetas haben Finkeldei und seine Kollegin Tita Kern, eine Psychotraumatologin, einige der Opferfamilien seit dem 22. Juli 2016 begleitet. Die Münchner Stiftung, die sich über Spenden finanziert, hilft Kindern und Jugendlichen, die Traumatisches erlebt haben - schnell, unbürokratisch, kostenlos.
65 junge Menschen, die vom Amoklauf betroffen waren, hat sie im vergangenen Jahr betreut: Geschwister und Freunde der Opfer, auch Augenzeugen oder Kinder, die regelmäßig Einrichtungen nahe dem OEZ besuchen, etwa Kindergärten oder Jugendzentren.
An jenem Abend waren Tita Kern und Simon Finkeldei gerade im Auto unterwegs, als sie per Radio hörten, was passiert war. Die Kinderstiftung meldete sich mit vier Mitarbeitern zum Einsatz: Drei fuhren zum Nothilfezentrum in der Werner-von-Linde-Halle, Tita Kern direkt zum OEZ. "Kinderkrisenintervention" nennt sich die Arbeit der Psychologen und Pädagogen etwas sperrig. Konkret sah das an dem Abend etwa so aus, dass Kern mit den Kindern zusammen schaute, wie viele Polizistenstiefel um sie herum zu sehen waren. "Wir haben Sicherheit gezählt."
Simon Finkeldei und seine Kollegin Tita Kern haben einige der Opferfamilien seit dem 22. Juli 2016 begleitet.
(Foto: Catherina Hess)15 Mitarbeiter hat die Aetas-Stiftung, alle mit einer Trauma-Fachausbildung. Neben den Kindern haben sie nach dem Amoklauf auch 152 persönliche Bezugspersonen (Eltern, Verwandte) und 133 professionelle Bezugspersonen (Erzieher, Lehrer) begleitet. Denn wie es ihnen geht, hat viel damit zu tun, wie die Kinder sich fühlen. "Wir wissen aus vielen Studien, dass die Stabilität der Großen einen sehr starken Vorhersagewert dafür hat, wie Kinder Dinge verarbeiten", sagt Finkeldei.
Menschen werden nicht zwangsläufig krank, wenn sie schlimmste Dinge erleben, betont er. "Nicht einmal, wenn ihnen jemand mit einer Waffe auf den Kopf zielt oder sie um ihr Leben rennen müssen. Und trotzdem hat so ein Ereignis genug Wucht, um Menschen krank zu machen."
Um dem vorzubeugen, ist es wichtig, sich Hilfe zu holen. Gefühle wie Angst und Hilflosigkeit sind bei Kindern stärker ausgeprägt, sagt Kern. Sie brauchen jemanden, der ihnen zeigt, wie man damit umgehen kann. "Solche Dinge liegen ganz klar außerhalb der normalen Elternkompetenz. Deshalb gehen wir einen Schritt vor den Eltern, damit die einen Schritt vor ihren Kindern gehen können."