Polizei München:Lehren aus der Münchner Amoknacht

OEZ

Schlecht ausgerüstet: Nach der Amoknacht von München wurde die Ausstattung der Polizei verbessert.

(Foto: Lukas Barth)

Hunderte Notrufe, Tausende Gerüchte: Was würde die Polizei beim Einsatz am Olympia-Einkaufszentrum rückblickend anders machen? Und könnte sie das überhaupt?

Von Thomas Schmidt

Nie zuvor hat die Münchner Polizei einen Einsatz im Nachhinein so gründlich aufgearbeitet wie jenen vom Abend des 22. Juli 2016. Etwa 2300 Polizisten waren damals ausgerückt, um die Bevölkerung zu schützen und einen Mörder zu bändigen. Ein Jahr danach stellt sich die Frage: Welche Lehren zieht die Polizei aus ihrem Einsatz? Was ist gut, was ist schlecht gelaufen? Für manche Probleme gibt es eine Lösung, für andere nicht.

Gerüchte, Panik, Twitter

Als im Jahr 1980 eine Rohrbombe am Eingang zum Oktoberfest 13 Menschen in den Tod riss, gab es noch kein Twitter, Facebook oder Whatsapp. Damals blieb das Chaos auf die Theresienwiese beschränkt. Doch als David S. 36 Jahre später in Moosach neun Menschen erschießt, ist die Welt eine andere. Die Nachricht breitet sich epidemisch in der Stadt aus. Das Virus der Angst dringt über die Displays der Smartphones in die Köpfe Tausender Münchner und infiziert viele mit Panik. Mindestens 32 Menschen verletzen sich auf der Flucht vor Gefahren, die es gar nicht gibt. Zu Hunderten wählen sie verängstigt den Notruf.

Was bedeutet das für die Arbeit der Sicherheitskräfte? Es macht sie vor allem schwieriger. Anrufer melden an diesem Freitagabend 71 Schießereien und zwei Geiselnahmen. Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins redet von "Phantomtatorten". Sie verteilen sich von Dachau über den Flughafen bis zum Hofbräuhaus und Stachus. Die Polizei hetzt von Ort zu Ort, nur um Gespenster zu jagen. Via Twitter verbreitet das Präsidium die Nachricht: "Gerüchte um eine Schießerei in der City bekannt. Die Lage ist noch unklar."

Als der Stachus als erster Phantomtatort gemeldet wurde, sei man noch davon ausgegangen, dass es mehrere Täter gibt, erklärt da Gloria Martins. "Sollen wir das verschweigen und riskieren, dass dort wirklich ein weiterer Täter um sich schießt? Oder sollen wir eine verhaltene Warnung formulieren?" Die Polizei entscheidet sich für die Warnung via Twitter. Solange man nicht hundertprozentig ausschließen könne, dass ein bewaffneter Täter durch die Innenstadt streift, "müssen wir davon ausgehen, dass tatsächlich eine Gefährdungslage vorliegt".

Fazit: Die Polizei muss heutzutage mit der rasanten Verbreitung von Gerüchten irgendwie umgehen. Sie tut dies, indem sie selbst immer schneller wird, Twitter und Facebook nutzt und notfalls auch falsche Warnmeldungen ausspricht. Die Vorstellung, von einer realen Gefahr gewusst und nicht gewarnt zu haben, ist für sie weitaus schlimmer. "Wir würden das im Zweifel wieder so machen", sagt der Polizeisprecher.

Phantomtäter

Eine oft verbreitete Geschichte besagt, dass bewaffnete Polizisten in Zivilkleidung durch die Innenstadt liefen und Panik auslösten, weil Zeugen sie für Terroristen hielten. Das stimmt laut da Gloria Martins aber nur zum Teil. Wie er sagt, gab es tatsächlich ein ziviles Einsatzteam, das David S. sah, sofort aus dem Wagen sprang und einen Schuss auf den 18-Jährigen abgab. Ein zweites Team in Zivil wurde zudem von einem Augenzeugen fotografiert. Allerdings waren diese Kräfte nur am OEZ unterwegs. Eine Erklärung für die Panik am Stachus oder im Hofbräuhaus sind Zivilkräfte somit nicht. Dennoch habe die Erfahrung gezeigt, sagt da Gloria Martins: Polizisten müssen immer darauf achten, im Notfall auch als Polizisten erkennbar zu sein. Die Lösung ist denkbar einfach: Längst liegen in jedem Streifenwagen "Polizei"-Westen zum Überziehen parat - man muss sie nur benutzen.

Whatspolizei

Ein Augenzeuge filmte den Amoklauf mit seinem Smartphone, als David S. aus dem McDonald's auf den Bürgersteig trat und schoss. Ein anderer hielt fest, wie sich der Schütze auf dem Parkdeck ein wüstes Wortgefecht mit einem Anwohner lieferte. Solche Aufnahmen können der Polizei entscheidende Hinweise liefern, aber via Digitalfunk lassen sich weder Fotos noch Videos teilen, und private Handys dürfen Polizisten aus Datenschutzgründen eigentlich nicht dienstlich nutzen. "Wenn wir Bilder vom Täter haben, müssen wir sie sofort an jeden einzelnen Polizisten schicken", sagt da Gloria Martins. "Das konnten wir bisher aber nicht."

Eine Lehre aus dem Einsatz ist folglich, dass die Polizei einen eigenen Messenger einführt, eine Art Whatspolizei. Das System wurde im Herbst auf der Wiesn bereits getestet. Bis Ende des Jahres sollen alle bayerischen Polizeiverbände mit 2800 speziellen Smartphones ausgerüstet sein. Der Messenger wird mit polizeieigenen Servern betrieben, ist geschützt gegen Hacker und erfüllt dank Löschalgorithmen die Anforderungen des Datenschutzes.

Hilfe für Verletzte

Opfer von Terroranschlägen oder Amokläufen haben häufig stark blutende Wunden an Armen, Beinen oder im Brustbereich. Eine Faustregel besagt, solche Patienten sollten innerhalb einer Stunde auf einem OP-Tisch liegen, danach sinke ihre Überlebenschance rapide, erklärt Robert Schmitt, Präsident des Medizinischen Katastrophen-Hilfswerks. Soweit die Theorie. In der Praxis dauert es oft länger, bis ein Tatort von der Polizei gesichert ist. Und solange noch Gefahr droht, dürfen sich die Sanitäter eigentlich nicht nähern.

Doch wer kümmert sich in dieser Zeit um die Schwerverletzten? Eine mögliche Antwort: die Polizei. "Das ist genau das, woran wir arbeiten", sagt da Gloria Martins. Bereits nach dem Terroranschlag von Paris schlug das Katastrophen-Hilfswerk vor, alle Polizeiwagen mit Hilfsmitteln der "taktischen Medizin" auszustatten. Bestärkt durch den Einsatz am OEZ wurde der neue Standard inzwischen eingeführt. In jedem Streifenwagen liegen nun zwei "Medipacks". Darin enthalten sind ein "Tourniquet", um stark blutende Wunden abzubinden, ein Notverband "Israeli Bandage" und Dinge wie Kleiderscheren und Bandschlingen. Die Polizisten werden damit geschult und sollen im Ernstfall Opfer, aber auch Kollegen versorgen und schnell in Sicherheit bringen.

Schutzausrüstung

"Man glaubt immer", sagt da Gloria Martins, "in so einer Situation kommt das SEK und regelt alles. Aber diejenigen, die zuerst am Tatort sind, sind die gleichen Streifenbeamten, die ein paar Minuten vorher einen Ladendiebstahl aufgenommen haben." Auch beim Amoklauf waren es normale Münchner Schandis, die als erste am OEZ ankamen. Deswegen "müssen wir alle Kollegen in die Lage versetzen, eine Erstintervention zu gewährleisten, denn sonst ist keiner da", sagt da Gloria Martins.

Auch das hat das Innenministerium seit Paris erkannt: Jeder bayerische Polizist wird derzeit neu ausgerüstet, bekommt eine neue ballistische Schutzweste, einen Schulter- und Tiefschutz und einen Helm. Komplett angelegt soll die Ausrüstung dem Beschuss aus einer Kalaschnikow standhalten. Im Ernstfall können Streifenpolizisten den Schutz aus dem Kofferraum holen und eingreifen, ohne tatenlos auf Spezialkräfte warten zu müssen. Für den Einsatz am OEZ kam die Neuerung allerdings zu spät. Erst zum Ende dieses Jahres sollen alle Streifenwagen bestückt sein.

Ausbildung

"Stärker zusammenwachsen, mehr üben" - das wünscht sich Schmitt vom Katastrophen-Hilfswerk. Er fordert eine standardisierte Ausbildung für Rettungskräfte und Polizisten, und zwar gemeinsam. Sanitäter müssten lernen, sich bei Bedrohungen selbst zu schützen. Und Polizisten sollten üben, Opfer so schnell wie möglich aus einem Gefahrenbereich herauszubringen und notfalls Wunden abzubinden. "Jeder findet den Vorschlag gut", sagt Schmitt, "aber noch sind wir nicht so weit." Binnen zwei Jahren könnten alle Einsatzkräfte in Bayern geschult sein - man müsse nur damit anfangen.

Die Polizei indes will die Erfahrungen aus dem Amoklauf in ihre taktische Aus- und Fortbildung einfließen lassen. Beispielsweise soll die unnötig komplizierte Unterscheidung zwischen Amok und Terror aufgehoben werden, stattdessen spricht die Polizei nur noch von "lebensbedrohlichen Einsatzlagen". Details zum taktischen Vorgehen sind geheim. Große Veränderungen soll es ohnehin nicht geben. Denn der Einsatz am OEZ habe gezeigt, so da Gloria Martins, dass die Polizisten schon jetzt sehr gut ausgebildet seien.

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