"Verben nennt man auch Tunwörter, aber auf Latein heißt es Verben." Rachid schiebt seine große blaue Harry-Potter-Brille den Nasenrücken hoch und macht gleich weiter in der Reihe seiner neuesten Erkenntnisse. "Über Pronomen kann ich auch was sagen, hab' ich heute in der Schule gelernt." Der Neunjährige ist nicht zu stoppen, während er den Besuch zum Aufzug führt, mit dem zarten Finger die "3" drückt, und dann weiter plaudernd den Schlüssel in eine Wohnungstür steckt: Hier lebt der Drittklässler auf 30 Quadratmetern mit seinem schwerbehinderten Bruder und seinem kranken Vater.
2021 sind die Söhne zu ihrem Vater gezogen. "Ich hätte sie schon vorher gerne bei mir gehabt", wird Naoufel A. später sagen. Der gebürtige Tunesier ist schwer zuckerkrank und leidet nach einem Schlaganfall auch an Neuropathie, die Arme und Beine wollen zuweilen nicht mehr. Jahrelang ist er von seiner Ein-Zimmer-Wohnung in Sendling aus jeden Morgen in den Münchner Norden gefahren, um Rachid dort in den Kindergarten zu bringen und ihn am Nachmittag wieder abzuholen. Kerim, mit elf Jahren der Ältere der beiden, ist schwerbehindert und wird jeden Tag von der Einrichtung, die er besucht, mit dem Schulbus geholt und gebracht.
Direkt nach der Geburt ist Kerim im Brutkasten zwei Monate lang auf Entzug gesetzt worden. Die Mutter der Jungs war schwer drogenabhängig. "Sie hat alles Mögliche genommen. Ich kenne mich da nicht aus", sagt A., der zum Schutz der Kinder nicht mit vollem Namen öffentlich in Erscheinung treten will. An ihrer Sucht ist die Mutter vor einem Jahr gestorben. Das Gericht hat dem Vater die Kinder schon vor zwei Jahren zugesprochen. Sie sind zu dem 58-Jährigen in die Wohnung gezogen, die er sich auf dem freien Markt genommen hatte, als er noch im Lager eines Lebensmittel- und eines Autoteilehandels und zusätzlich in der Gastronomie gearbeitet hatte. Inzwischen ist er aufgrund seiner körperlichen Gebrechen schwerbehindert und berufsunfähig. Er bezieht Bürgergeld.
"Baba", ruft Kerim unablässig als der Vater vom gemeinsamen Leben erzählt und streicht sich mit der Hand hektisch in Kreisbewegungen über den Bauch. Naoufel A. hat den Buben eben unten auf der Straße vom Schulbus-Fahrer in Empfang genommen. "Kerim hat Hunger. Er kann nur Baba und Mama sagen", übersetzt Rachid dem Gast wie ein Fremdenführer, der Interessierte freundlich durch unbekannte Gefilde leitet. Der Vater humpelt in die Küche und kommt mit einem Joghurt zurück. "Ich muss uns jetzt immer die Viererpackung für 89 Cent kaufen, alles andere geht bei der Inflation finanziell nicht mehr", sagt A., zieht den Deckel ab, reicht den Becher seinem Ältesten und streicht ihm übers Haar. "Baba, Baba!" Kerim gluckst laut.
760 Euro zahlt Naoufel A. Miete für die Wohnung, in der er sich eine Doppelcouch mit Kerim zum Schlafen teilt. Auf der dazu geschobenen Liege übernachtet Rachid, tagsüber dient die Stellage als Sitzecke. Auf einem kniehohen Tisch davor isst die kleine Familie, spielen die Jungs mit Bauklötzen, macht Rachid seine Hausaufgaben. Etwa 900 Euro bleiben den Dreien zum Leben. Davon müssen Telefon, Internet, das Rachid längst auch für die Schule braucht, Kleidung und Lebenshaltung bezahlt werden. "Rachid geht gerne zu Freunden", umgekehrt, sagt der Vater mit Blick auf seine Jungs, "lässt Kerim sie hier nicht spielen."
Klar haben die drei Wünsche: "Am Tisch oder Boden Hausaufgaben machen ist nervig", ruft Rachid aus dem Schwitzkasten rüber. Einen Schreibtisch bräuchte der Junge, ein Hochbett für ihn und den Bruder und ein Bett für Naoufel A. selbst. Sie haben sich für eine größere Wohnung beworben, aber so lange daraus nichts wird, würde es helfen, Geld für kleine Renovierungsarbeiten hier zu haben. Die Küchenschränke gehen aus dem Leim.
Kerim springt auf, stürzt mit ausgebreiteten Armen auf den Besuch und ruft "Mama". Rachid wirbt um Verständnis: "Er sagt zu allen Frauen Mama, er hat nicht verstanden, dass sie nicht mehr da ist." Naoufel A. zieht seinen schlauen Neunjährigen, auf dessen schulische Leistungen er stolz ist, sanft zu sich: "Aber du hast verstanden, dass sie nicht mehr kommt?" Rachid schiebt mit dem Finger die blaue Harry-Potter-Brille den Nasenrücken hoch und fixiert seine Füße. "Ja."
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