Vor sieben Jahren ist geschehen, was bis dahin zwar als vorstellbar, aber doch als höchst unwahrscheinlich galt. Der größte Staat der Erde griff seinen Nachbarn im Westen an. Mit zunächst camouflierter militärischer Gewalt übernahm Russland die Kontrolle über die ukrainische Krim, annektierte die Halbinsel und begann mit irregulären Truppen einen Krieg im Donbass.
Sieben Jahre sind eine kurze Zeit, aber sie hat ausgereicht, um manche den Grund für die Sanktionen gegen Russland und das miserable Verhältnis des Westens zur Führung in Moskau vergessen zu lassen. Sie suchen die Schuldigen in Washington, Brüssel und Berlin. Russlands militärische Machtschau an den Grenzen der Ukraine hilft der Erinnerung nun auf die Sprünge. Vor allem zwingt sie dazu, das Vorstellbare auch für wahrscheinlich zu halten.
Donbass:Machtprobe an der ukrainischen Grenze
Mehr Truppen, neue Geschütze und Gefechte: Bereitet Russland eine neue Etappe im Krieg gegen die Ukraine vor? Drei Szenarien sind denkbar.
Niemand sollte sich sicher sein, dass der russische Präsident nicht vollenden will, was er 2014 begonnen hat. Nachdem die Ukraine als Ganzes für den russischen Machtanspruch verloren ist, bleibt Wladimir Putin immer noch die Option, seine Geländegewinne zu vergrößern, den Zugang zur Krim zu verbessern und die Spaltung der Ukraine zu zementieren, indem er das Projekt eines "Neurussland" im Osten der Ukraine aufleben lässt. Den Zeitpunkt könnte Putin für günstig halten. Die Welt steckt im Griff der Corona-Pandemie, die EU-Staaten sind mit sich selbst beschäftigt. Was auch erklären mag, warum den wachsenden Spannungen an der russisch-ukrainischen Grenze bislang so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde.
In der Natur der Sache liegt, dass über die Absichten Putins nur spekuliert werden kann. Entscheidungsträger im Westen müssen verschiedene Möglichkeiten in Betracht ziehen. Die Truppenbewegungen können ebenso der Einschüchterung dienen wie tatsächlichen Kriegsvorbereitungen. Womöglich will Putin auch die Nerven des neuen US-Präsidenten Joe Biden testen, der ihn mit seiner "Killer"-Äußerung verärgert hat. Denkbar ist, dass Putin über seine nächsten Schritte noch gar nicht entschieden hat. Eben diese Unklarheit zwingt den Westen zur Klarheit. 2014 ist Putin offenbar von der scharfen Reaktion und den spürbaren Sanktionen überrascht worden. Der Kremlchef sollte diesmal unbedingt wissen, worauf er sich einlässt.
Die Gefahr besteht darin, dass die russische Führung die Folgen eines neuerlichen Angriffs bereits für eingepreist hält, zumal sie sich an die wirtschaftlichen Kosten der bisherigen Sanktionen gewöhnt hat. Auch das Verhältnis zur EU hat Russland längst abgeschrieben, was Außenminister Sergej Lawrow durch die demütigende Behandlung des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell während dessen unglücklicher Moskau-Reise dokumentiert hat. Immerhin hat der Westen mit Biden im Weißen Haus nun wieder die Chance, einig aufzutreten. Er muss nun rechtzeitig klarmachen, dass es für Russland durchaus schlimmer kommen kann. Es muss mit Sanktionen gedroht werden, die den russischen Machtapparat und seine wirtschaftliche Basis deutlich stärker treffen als die bisherigen.
Abschreckung ist durchaus nicht nur ein militärisches Mittel, sondern auch eines der politischen Kommunikation. Wenn Deutschland und Frankreich nun beide Seiten zur Zurückhaltung aufrufen, wird das in Moskau kaum als ernste Warnung ankommen. Sollte Russland die Ukraine angreifen, wäre dies selbstverständlich das Ende von Nord Stream 2. Wenigstens das müsste nun klar gesagt werden.