Gil Ofarim:Eine Debatte mit wenig Fakten und vielen Meinungen

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Gil Ofarim, gebürtiger Münchner, 39 Jahre alt. (Foto: Jens Krick via www.imago-images.de/imago images/Future Image)

Im Oktober: Vorverurteilungen gegen den Mitarbeiter eines Leipziger Hotels - und nun: gegen den Musiker. Über eine Gesellschaft, die es manchmal zu eilig hat.

Kommentar von Antonie Rietzschel

Ein junger Mann, der wegen des Davidsterns an seiner Kette von einem Hotelmitarbeiter antisemitisch beleidigt wird. Und niemand greift ein - es waren bedrückende Vorwürfe, die der Sänger Gil Ofarim im Oktober auf seinem Instagram-Account erhob. Die Staatsanwaltschaft Leipzig ist nun nach monatelangen Ermittlungen zum Schluss gekommen, dass seine Darstellung nicht stimme, und hat Anklage wegen Verleumdung und falscher Verdächtigung erhoben. Ofarim hat sich aus Instagram zurückgezogen. Er schweigt - und mit ihm viele der Politiker und Aktivisten, die damals eine Entschuldigung des Hotels und die Entlassung des Mitarbeiters forderten. Das Ganze ist ein Lehrstück über die Reflexe einer von sozialen Medien getriebenen Gesellschaft, in der schnelle Positionierung verlangt, Vorsicht dagegen als Verharmlosung auslegt wird. Und auch die SZ nahm Wertungen vor, die sie heute so nicht mehr treffen würde. Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) zum Beispiel erklärte damals, man habe noch "viel zu tun in Sachsen" - scheinbar passte der Vorfall ja irgendwie zu einem Bundesland, das in der Vergangenheit wegen rassistischer und rechtsextremer Übergriffe in Verruf geraten war. Vielleicht auch zu gut.

Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) wiederum hatte sich in dem Fall lange zurückgehalten und so viel richtig gemacht. Jetzt steht er trotzdem im Zentrum eines kleinen Shitstorms. In einem auf Facebook und Twitter veröffentlichten Statement kritisiert er zu Recht die Vorverurteilungen in dem Fall, die Stigmatisierung des Rezeptionisten. Nur: Kretschmer verfällt dem gleichen Reflex, den vor Monaten dieser Mitarbeiter zu spüren bekam: Er wirft Ofarim "Falschaussagen und Verleumdung" vor. Das Landgericht Leipzig muss erst prüfen, ob es die Anklage überhaupt zulässt, einen Prozess oder gar eine rechtskräftige Verurteilung gibt es noch lange nicht, und bis dahin hat auch Gil Ofarim als unschuldig zu gelten.

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Der Ministerpräsident schreibt über "Deutsche und Juden"

Richtig problematisch in Kretschmers Erklärung ist aber der folgende Satz: "In den vergangenen Jahren ist ein großes Vertrauen zwischen Deutschen und Juden gewachsen." Was ist denn das für ein Begriffspaar? Hat da jemand nicht richtig nachgedacht, oder spricht Sachsens Ministerpräsident Menschen aufgrund ihrer Glaubenszugehörigkeit das Deutschsein ab? Die Twitter-Gemeinde tobte, also reagierte Kretschmer. Zum Glück gebe es wieder eine "große Zahl deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens", twitterte er. Dass es eine solche Klarstellung im Jahr 2022 noch braucht, zeigt, welche Kräfte nach wie vor im Unbewussten vieler Menschen wirken.

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