Russland:Mutnehmer statt Mutmacher

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Polizisten befreien einen Mann, der sich vor dem obersten Gerichtshof der Russischen Föderation an einen Pfahl gekettet hat. Russlands oberstes Gericht hat die Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial verfügt. Die angeordnete Auflösung der internationalen Menschenrechtsorganisation ist auf breites Entsetzen gestoßen. (Foto: dpa)

Das Verbot von "Memorial" zeigt, was der Kreml von einer Zivilgesellschaft hält: nichts.

Kommentar von Frank Nienhuysen

Das Gericht hat gesprochen, im Grunde aber hat die Richterin etwas ausgesprochen - nämlich was die Generalstaatsanwaltschaft gesagt und der Kreml praktisch vorweggenommen hat mit seiner harschen Vorverurteilung von Memorial. Das Verbot der international angesehenen Organisation ist leider keine Überraschung mehr gewesen, sondern eine Bestätigung. Die Folgen sind ohnehin weitreichend.

Der russische Staat geht schon seit Langem gegen seine Kritiker vor; das Gesetz über die Registrierung als "ausländischer Agent" ist dabei ein relativ neues Werkzeug, das er zunehmend schärft und auf größere Gruppen anwendet. Schon die Frage, ob Memorial, das sich vor allem um die Aufarbeitung von stalinistischen Verbrechen kümmert, damit auch "politisch tätig" ist (wie es das Agentengesetz voraussetzt), lässt sich nach Gusto dehnen und ebenso gut bestreiten. Ja, Memorial hat sich der Etikettierung als "Agent" immer wieder entzogen, dafür hat die Organisation auch eine Vielzahl von Bußgeldern bezahlt. Jetzt aber bezahlt sie mit dem radikalen Verbotsurteil dafür, dass sie der Geschichtsdeutung des russischen Staates widerspricht. Der möchte verhindern, dass an der immer wohlwollenderen Betrachtung der sowjetischen Vergangenheit gerüttelt wird.

Für die russische Zivilgesellschaft ist dies ein schwerer Schlag. Wie sollen kritische Aufklärung, bürgerliches Engagement entstehen, wenn selbst eine derart anerkannte Organisation wie Memorial so leicht zerschlagen werden kann? Der Staat macht seinen Bürgern nicht Mut, er nimmt ihnen Mut. Zugleich ist dieses Verbot eine schwere Niederlage für den letzten Präsidenten der vor 30 Jahren aufgelösten Sowjetunion, Michail Gorbatschow. Er hatte in seiner Abrechnung mit dem System einst Glasnost gepredigt, mehr Transparenz auch bei der Aufarbeitung der Vergangenheit. Heute hat der Kreml daran kein Interesse. Gorbatschow hat nicht ohne Grund die Klage gegen Memorial kritisiert; aber doch vergeblich.

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