Grundrechte haben gerade Konjunktur, jedenfalls muss diesen Eindruck bekommen, wer die Schilder liest, die bei Demonstrationen von Impfgegnern hochgehalten werden. Von Freiheit ist dort die Rede und von körperlicher Unversehrtheit. Deswegen ist es gut, dass sich nun die obersten Hüter der Grundrechte zum ersten Mal in dieser Pandemie zum Thema Impfen geäußert haben. Das Bundesverfassungsgericht hat das klare Signal gegeben, dass die Impfpflicht in Kliniken, Arztpraxen und Pflegeheimen kommen kann.
Gewiss, es ist nur ein Eilbeschluss mit vorläufiger Wirkung, und Karlsruhe hat sogar einen formalen Fehler moniert, den der Gesetzgeber schleunigst korrigieren sollte, um keine Angriffspunkte zu bieten. Aber in der Sache hat sich das Gericht zu einer Aussage durchgerungen, die es auch im Hauptsacheverfahren nicht mehr umstoßen wird: Gegen eine einrichtungsbezogene Impfpflicht bestünden "keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken".

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Ein Grundrecht gehört niemandem allein
In der emotional aufgeheizten Debatte um die Pflicht zur Immunisierung ist ein klärendes Wort wie dieses wichtig. Der Beschluss wägt ab zwischen den Konsequenzen für das zur Immunisierung verpflichtete Personal und den Gefahren für Patienten und Heimbewohner - und hält damit jenen einen Spiegel vor, die lautstark "ihre" Grundrechte und "ihre" Freiheit einfordern. Die Karlsruher Lesart der Grundrechte, die beide Seiten in den Blick nimmt, hat nichts mit dem egoistischen Freiheitsverständnis zu tun, wie es in den Protestzügen der Impfgegner propagiert wird. Wer "Mein Körper, meine Entscheidung" aufs Pappschild schreibt, der müsste nach der Lektüre des Eilbeschlusses ehrlicherweise hinzufügen: "Dein Risiko".
Ob auch eine allgemeine Impfpflicht in Karlsruhe Bestand hätte, diese Frage ist mit dem Beschluss allerdings noch nicht beantwortet. In den Kliniken und Pflegeheimen ist der Schutz vulnerabler Gruppen so dringlich, dass man - gäbe es das Gesetz nicht - die Einführung einer Impfpflicht fürs Personal fast schon für zwingend halten müsste. Bezogen auf die gesamte Bevölkerung, verläuft die Abwägung anders. Da bekommen Umsetzungsprobleme ein höheres Gewicht, oder gesellschaftliche Verwerfungen, die ein zunehmend polarisierter Streit hinterlassen kann. Und auch die persönliche Freiheit desjenigen, der nicht mit gefährdeten Menschen arbeitet, hätte höheres Gewicht als bei Ärztinnen und Pflegern. Aber eines lässt sich - gleichsam in der Nussschale - aus der einrichtungsbezogenen Impfpflicht auch für die gesamte Gesellschaft lernen: Freiheit ist ein Gemeinschaftswerk, das gilt in der Pandemie mehr als je zuvor. Ein Grundrecht gehört niemandem allein.