Der Skandal um die WDR-Dokumentationsreihe Menschen hautnah hat eine Diskussion über journalistische Standards in Fernsehdokus und -reportagen ausgelöst. Katarina Schickling ist Berufsgruppensprecherin und seit fünf Jahren im Vorstand von Dok Regie, wo sie für eine bessere Vergütung von dokumentarischen Filmen kämpft. Ein Gespräch über prekäre Arbeitsbedingungen.
SZ: Frau Schickling, warum nutzen Fernsehreporter heute kommerzielle Plattformen wie Komparse.de und Stagepool.de, um Protagonisten zu suchen?
Katarina Schickling: Protagonisten werden heute, auch bei öffentlich-rechtlichen Sendern, regelrecht gecastet. Finden Sie mal drei Frauen, die vergewaltigt worden sind, die das offen vor der Kamera erzählen. Und dann sagt der Sender, die eine kommt nicht so sympathisch rüber. Ich arbeite meistens mit Experten oder Zeitzeugen, die sind einfacher zu finden, und nutze die Portale nicht. Ich kann aber verstehen, wenn Kollegen das tun. Die Vorgaben für Protagonisten sind eng, bei den meisten Sendern muss man inzwischen vorab regelrechte Drehbücher abliefern, zum Teil mit ausgeschriebenen O-Tönen, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Protagonisten noch nicht feststehen.
Wie soll das funktionieren?
Ich muss mir im Vorfeld überlegen, was die - potenziellen - Protagonisten sagen könnten. Bei einer Abnahme hat eine Redakteurin sogar gefragt, wo das tolle Zitat aus dem Konzept sei. Ich sagte: Das war erfunden, den Protagonisten gab's da noch gar nicht. Das wissen die Redaktionen.
WDR:"Quote wollen sie dann nämlich schon immer gern"
Die Autorin dreier umstrittener "Menschen hautnah"-Sendungen sagt, Komparsen in Dokus seien üblich. Was für die Sender zähle, seien gute Quoten. Der WDR will trotzdem nicht mehr mit ihr arbeiten.
Warum wird heute so gearbeitet?
Das Bedürfnis, alles schon im Vorfeld festzulegen, hat mit Unsicherheit zu tun, die Redaktionen wollen sich absichern, und auch mit der Quote. Natürlich verkaufen sich spektakuläre Geschichten besser als weniger spektakuläre, natürlich wird Zuspitzung gewünscht.
Bei "Menschen hautnah" wurde in unzulässiger Weise zugespitzt, wie der WDR eingeräumt hat. Ist im Vergleich zu den hochdramatischen Scripted-Reality-Filmen der privaten Sender die Wahrheit nicht mehr gut genug?
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Wirklichkeit interessant genug ist. Aber oft ist die Wahrheit weniger spektakulär ist als man zunächst dachte.
Und dann wird sie zurechtgebogen?
Ich persönlich habe da ein reines Gewissen, und ich glaube, die meisten meiner Kollegen auch. Niemand macht absichtlich schlechte oder falsche Filme, wir stehen ja mit unseren Namen dafür ein. Wir wollen möglichst schöne, wahrhaftige, authentische Filme machen. Das ist ein Anspruch, der dem Verfälschen gerade entgegensteht. Gleichzeitig ist der Druck, immer das ganz Besondere zu liefern, hoch.
Bei "Menschen hautnah" stimmten auch biografische Angaben nicht, die man als Redaktion leicht hätte überprüfen können.
Ich habe mich auch über die falschen Angaben geärgert. Glaubwürdigkeit ist unser Kapital, wenn wir die verlieren, sind wir alle arbeitslos. Und die beginnt im Detail. Das Problem ist aber nicht, dass die Redaktionen nicht gut genug kontrollieren, sondern dass die Kreativen oft nicht genug Zeit und Geld haben, um ordentlich zu arbeiten.
Schuld ist also das System?
In den Neunzigerjahren habe ich bei Focus TV gearbeitet, wir hatten 13 festangestellte Reporter. Aus manchen Recherchen ist was geworden und aus manchen nichts, das war aber egal, weil jeder ein festes Monatsgehalt bekommen hat. Heute ist im Fernsehen das Risiko ausgelagert auf die Kreativen. Die müssen liefern um jeden Preis.
Egal, ob die Fakten stimmen oder nicht?
Es erzeugt natürlich Druck, wenn man tagelang arbeitet und, wenn am Ende kein Film daraus wird, nicht bezahlt wird. Darum gehört das Entwickeln in die Zuständigkeit der Sender und nicht einfach ausgelagert auf die Freien, die Themen pitchen, von denen sich die Sender das Beste aussuchen. Wir brauchen Entwicklungshonorare, dann kann man recherchierte Geschichten vorschlagen. Ich habe eine Produzentin, die mir fairerweise einen kleinen Betrag für Exposés zahlt, das ist die Ausnahme.
Wie sieht es aus, wenn Recherchen länger dauern als gedacht?
Beim Kalkulationsgespräch weiß man noch gar nicht, wie aufwendig die Suche nach Protagonisten wird. Wenn ich keinen finde, zahlt mir niemand meine zusätzlichen Kosten. Buch und Regie werden fast immer in Pauschalen bezahlt, die Dreh- und Schnitttage stehen in der Regel fest. Ich kann fast nur bei der Recherche sparen. Wir Dokumentarfilmer sind anfällig für Selbstausbeutung, weil die Filme unsere Babys sind. Es ist schwer, sich zu disziplinieren und wirklich nur die Arbeit zu leisten, die man bezahlt bekommt.
Wie hoch sind die Honorare bei Dokumentarsendungen wie "Menschen hautnah"?
Die Honorare für Buch und Regie für einen 45-Minüter bewegen sich in der Regel zwischen 14 000 und 18 000 Euro. In der Gagendatenbank des Bundesverbandes Regie taucht "Menschen hautnah" mehrfach mit 14 000 auf. Bei einem Film, der nicht besonders rechercheintensiv ist, kann man von 40 bis 50 Arbeitstagen ausgehen, bei aufwendigen Recherchen, wie oft bei Menschen hautnah, muss man mit bis zu 70 Tagen rechnen. Umgerechnet auf Tagesgagen werden wir schlechter bezahlt als die Kameraassistenten, dabei tragen wir die Verantwortung. Das ist ein Unding!
Bei einer aktuellen Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung gaben 66 Prozent der freien Mitarbeiter an, dass sie für die gleiche Arbeit weniger als Festangestellte bekommen. Wann haben die Sender mit dem Outsourcing begonnen?
Im Lauf der Neunzigerjahre wurde das beliebter, um zu sparen. Wenn man direkt für den Sender arbeitet, kriegt man zum Beispiel ein Wiederholungshonorar, aber nicht, wenn man für externe Produktionsfirmen arbeitet. Bei vielen Sendern sind die Gagen für die Auftragsproduktionen jahrelang nicht angehoben worden, während die festen Freien regelmäßig kleine tarifliche Erhöhungen gekriegt haben. Heute soll alles Hochglanz sein und journalistisch höchsten Ansprüchen genügen, aber bezahlen will das niemand. Am katastrophalsten ist es bei langen Dokus.
Haben Sie ein Beispiel?
Bei der Verleihung des Deutschen Drehbuchpreises 2017 haben die Nominierten, also die Elite des deutschen Dokumentarfilms, auf der Bühne darauf aufmerksam gemacht, wie viel sie verdienen. Buch und Regie landen da oft bei Tagessätzen von 150, 160 Euro.
Für preisgekrönte Filme ...
... mit denen sich die Sender schmücken, ja. Ich sehe nicht ein, warum wir eine Art Solidarbeitrag für milliardenschwere öffentlich-rechtliche Anstalten leisten sollen, damit die sich ihr Programm leisten können. Im Zweifel sparen die Sender am Programm und sehr gern am Dokumentarischen, das immer öfter in Randzeiten verschoben wird. Wir, die den Kernbereich des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags abdecken, tun das zu prekären Arbeitsbedingungen, gleichzeitig haben die Sender Filme über Ausbeutung und Mindestlohn im Programm. Immerhin haben wir mit dem ZDF vor drei Jahren das erste Mal eine gemeinsame Vergütungsregel beschlossen, die letzte Woche erneuert und leicht erhöht worden ist.
Wie sieht diese Regelung konkret aus?
Für einen 45-Minüter darf nicht weniger als 18 000 Euro bezahlt werden, für aufwendigere Filme gibt es mehr. Die Regelung ist noch nicht ideal, aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die ARD zahlt schlechter, da haben wir keine solche Vergütungsregel, weil das von allen Sendern abgesegnet werden muss, die teilweise sehr unterschiedliche Vergütungsmodelle haben. Wir haben Mitte Februar einen Termin, wo wir sondieren, ob wir zu einer Regelung kommen.
Was erhoffen Sie sich von dem Gespräch?
Bei der ARD sind, im Gegensatz zum ZDF, Wiederholungen ein großes Thema, weil es so viele Abspielflächen gibt. Ich habe vor einigen Jahren eine Dokumentation gemacht, Mahlzeit Deutschland, die ist 40 Mal wiederholt worden, ich sehe da keinen Cent. Die Filme sind auch eigentlich immer in der Mediathek, weil sie in irgendeinem Dritten gerade gelaufen sind. Für die Mediathekenvergütung gibt es auch beim ZDF noch kein hundertprozentig zufriedenstellendes Modell. Ich hoffe, dass die aktuelle Diskussion ein Weckruf ist. Nur Leute, die ihre Arbeit gut bezahlt bekommen, können ihre Arbeit auch gut erledigen.