Wählerverhalten:Wie Debatten Wahlen entscheiden

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Die Furcht vor Terror und Gewalt bestimmen die Politik dieser Tage: Bewaffnete Soldaten und Polizisten patrouillieren in London auf der Downing Street in Westminster. (Foto: dpa)

Griechenland, Flüchtlinge, Terror. Ein Wissenschaftler erklärt, warum unsere Gesellschaft seit ein paar Jahren von Großthemen dominiert wird. Und warum soziale Gerechtigkeit im Wahlkampf deshalb wohl kaum jemanden interessiert.

Interview von Julian Dörr

Großbritannien hat gewählt. Frankreich wählt noch. Deutschland auch. In Europa drehen sich die Kämpfe um Wählerstimmen in diesem Jahr um die ganz großen Fragen: Wie umgehen mit neuen Migrationsbewegungen? Wie mit Terror und Bedrohung? Und was macht aus diesen Fragen eigentlich große Fragen? Welches Thema schafft es zu einer gesellschaftlichen Debatte - und welches nicht? Das erforschen Menschen wie Marcus Maurer, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Mainz. Sein Schwerpunkt: politische Kommunikation. Zeit herauszufinden, warum wir über das reden, über das wir reden.

SZ: Warum dominiert das Thema innere Sicherheit die Wahlkämpfe gerade so sehr?

Marcus Maurer: Weil das Thema Terrorismus so tief in den Köpfen der Leute drin ist. Einerseits durch die Ereignisse selbst. Andererseits durch die Berichterstattung über diese Ereignisse. Im Zweifelsfall nutzt so ein Thema immer den Parteien, die bei diesem Thema als besonders kompetent gelten. Das nennt man Issue-Ownership-Theorie. Parteien besetzen bestimmte Themen und profitieren davon, wenn es um diese Themen geht. Bei Umweltschutz wären das zum Beispiel die Grünen. Und beim Thema innere Sicherheit sind es eben eher die konservativen Parteien.

Großbritannien hat in kürzester Zeit zwei Terroranschläge erlebt. Aber die große Gewinnerin der Wahl ist die Labour-Partei von Jeremy Corbyn.

Es ist ja nie so, dass nur ein Thema die Wahl grundsätzlich entscheidet. Es gibt unglaublich viele Faktoren, die sich auf Wahlentscheidungen auswirken. Ich würde das nicht überbewerten. Die Themenlage spricht trotzdem eher für die Konservativen. Aber da kommen noch andere Dinge hinzu, die eine Rolle spielen. In Großbritannien ist es zum Beispiel die Diskussion um den Brexit. Oder die Person Corbyn.

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Die Konservativen haben Jeremy Corbyn als "zu links" und "unwählbar" diskreditiert. Trotzdem holte Labour 40 Prozent, so viel wie seit Tony Blair nicht mehr. Die Gründe.

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Im aktuellen politischen Klima haben Parteien wie die Sozialisten in Frankreich und die SPD hier in Deutschland aber grundsätzlich weniger Chancen.

Wir können uns dem Themendiktat relativ schlecht entziehen. Wenn ein Thema in der Gesellschaft stark diskutiert wird, dann halten wir das zwangsläufig für ein sehr wichtiges Thema. Und beziehen es stärker in unsere Entscheidungsfindung ein.

Es gibt also so etwas wie einen Zeitgeist - und der zeigt sich gerade im Bedürfnis nach mehr Sicherheit?

Richtig, wir nennen das nur nicht Zeitgeist, sondern Agenda. Es gibt eine öffentliche Agenda. Das, womit wir uns beschäftigen. Das, was wir für wichtige Probleme halten. Von denen wir glauben, dass die Politik sie jetzt lösen muss.

Man sieht ja gerade in einem Wahlkampfjahr wie diesem, wie oft sich unsere Gesellschaft - angestoßen von der Politik - in Scheindebatten verliert. Wir sprechen über die Burka und über deutsche Leitkultur. Dabei gibt es doch viel drängendere Themen.

Das waren jetzt aber auch keine Fälle, die die Diskussion über Monate dominiert haben. Ich finde in diesem Zusammenhang etwas anderes sehr interessant und bemerkenswert. In letzter Zeit gab es häufiger Themen, die über Monate hinweg die gesamte Berichterstattung dominiert haben. Jetzt ist es Terror und innere Sicherheit. Davor war es die Flüchtlingsdebatte. Davor war es die Griechenlanddebatte. Das waren Themen, die über ganz lange Zeiträume alles andere komplett verdrängt haben. Seit zwei, drei Jahren gibt es diese Themen, die alles dominieren. Das kann ich im Augenblick zwar nicht empirisch belegen, aber das ist mein Eindruck.

Woher kommen diese Großthemen?

Meine Vermutung: Diese Großthemen entstehen, weil Journalisten sich zu sehr an ihrem Publikum orientieren. Sie bekommen mittlerweile unmittelbar Rückmeldung darüber, was die Leute interessiert hat. Das führt dann natürlich dazu, dass solche Themen, für die das Publikum sich interessiert, immer weiter gespielt werden. Warum soll man aufhören über eine Sache zu berichten, von der man weiß, dass sie das Publikum interessiert?

Ist das gefährlich für die Debattenkultur?

Es ist problematisch. Es gibt viele relevante Themen, die für die Öffentlichkeit in den Hintergrund rücken, obwohl sie objektiv betrachtet wirklich wichtig sind. Wenn Medien vermehrt nur über ein Thema berichten, dann ist das natürlich problematisch, weil wir vieles vergessen, was uns interessiert - oder interessieren sollte.

Das gilt aber nicht nur für die Medien. Wenn am Abend des 24. Septembers der Wahlverlierer oder die Wahlverliererin ans Mikrofon tritt, dann wird er oder sie wohl einen Satz sagen wie: "Wir konnten dem Wähler nicht das bieten, was er sich wünscht". Was soll denn so ein Satz?

Da treffen zwei Modelle aufeinander: Soll Politik Angebote machen? Völlig unabhängig von dem, was die Bevölkerung will. Oder ist es die Aufgabe von Politik darauf zu schauen, was die Bevölkerung möchte? Politik ist heute sehr stark strategisch ausgerichtet. Auch hier orientiert man sich mehr und mehr am Publikum. Man macht Umfragen, schaut, was die möglichen Wähler so wollen und richtet dann in Teilen sein Wahlprogramm danach aus.

Womit wir wieder beim Grund für die problematischen Großthemen wären.

Ja. Auch hier hat man heute bessere Möglichkeiten Feedback zu bekommen. Aber: Wenn alle Parteien Umfragen machen und alle Parteien repräsentative Stichproben befragen, kommen am Ende alle zum selben Ergebnis. Man konzentriert sich dann auf vielleicht weniger wichtige Themen, von denen man aber glaubt, sie könnten wahlentscheidend sein. Und wenn das die Medien und die Politik gemeinsam tun, dann bleiben am Ende wenige Themen übrig.

Sind also wir Medien schuld, dass man in diesem Bundestagswahlkampf wohl zu großen Teilen über innere Sicherheit sprechen wird - und viel weniger über soziale Gerechtigkeit?

Mit dem Wort "Schuld" möchte ich vorsichtig sein. Man muss da niemanden beschuldigen, es kann einfach gar nicht anders sein. In dem Moment, wo sich Journalisten entscheiden, häufig über ein bestimmtes Thema zu berichten, führt das dazu, dass Menschen dieses Thema für wichtig halten. So funktioniert Journalismus. Es gibt ja auch ständig Ereignisse, über die Sie berichten müssen. Wie Terroranschläge.

Heißt: Wenn es mit der politischen Weltlage so weitergeht, mit regelmäßigen Anschlägen im Westen, dann wird es sehr schwierig werden, soziale Gerechtigkeit als Thema im Bundestagswahlkampf zu platzieren?

Ganz sicher. Das Problem mit Terrorismus ist sehr speziell. Weil sich Menschen in ihrem Leben bedroht fühlen. Dieses besondere Involviert-Sein gibt es bei anderen Themen nicht. Weshalb es auch ein Thema ist, das man nur sehr schwer aus den Köpfen der Menschen bekommt - solange es diese Anschläge gibt. Da fällt es schwer, Themen, von denen die allermeisten nicht mehr direkt betroffen sind, wie Armut oder Arbeitslosigkeit, zu platzieren.

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