Gesellschaftspolitik:Anleitung für eine richtige Leitkultur

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Braucht es eine Leitkultur? Ja, aber nicht wie Thomas de Maizière sie skizziert.

(Foto: Jessy Asmus)

Immer wieder zählen Politiker auf, was ihnen zufolge in Deutschland wirklich zählt. Doch meist liegen sie falsch - genau wie ihre Kritiker. Wir brauchen tatsächlich eine Leitkultur. Aber nicht die, die ständig gefordert wird.

Analyse von Markus C. Schulte von Drach

In jeder Demokratie werden Minderheiten gezwungen, unter Bedingungen zu leben, die eine von der Mehrheit gewählte Regierung ihnen zumutet. Seit der Einführung der Agenda 2010 etwa müssen etliche Bürgerinnen und Bürger mit weniger Geld vom Staat auskommen als zuvor - was für viele eine extreme Belastung war und ist. Im Prinzip ist es also üblich, dass eine Mehrheit in einer demokratischen Gesellschaft über das Leben von Minderheiten mitbestimmt.

Besonders heikel wird dies aber, wenn die betroffenen Mehrheiten und Minderheiten sich durch Sprache, Glaubensvorstellungen oder wichtige Traditionen unterscheiden - Merkmale, die mit einer Gruppenidentität zusammenhängen. Deshalb wird über den Begriff "Leitkultur" und die Vorstellung, was er bedeuten soll, so leidenschaftlich gestritten.

Viele halten schon den Versuch für überheblich, festzulegen, welche Werte und Normen rechtfertigen sollen, dass eine Kultur Vorrang vor allen anderen hat. Andere erklären einfach die eigenen Werte zu denen der Leitkultur. Das Niveau, auf dem die Debatte verläuft, lässt viel zu wünschen übrig - sowohl bei den konservativen Anhängern einer Leitkultur als auch auf der Seite der Kritiker, die meist dem liberalen oder linken Spektrum angehören.

Ursache dafür ist einerseits, dass die Unionsparteien den Begriff seit dem Jahr 2000 für ihre Politik vereinnahmt haben. Andererseits hängen viele Menschen der Idee einer multikulturellen Gesellschaft an, in der Gruppen mit unterschiedlichen Lebensstilen, aber auch verschiedenen Normen und Werten friedlich nebeneinander leben sollen.

Es lässt sich aber tatsächlich eine Leitkultur formulieren, die für die moderne offene Gesellschaft von Bedeutung ist. Es ist nur nicht die Leitkultur, die zuletzt Bundesinnenminister Thomas de Maizière in der Bild skizziert hat.

Leitkultur unter Politikern

Für die Unionsparteien bestimmen deutsche Sprache, Geschichte, Traditionen und die christlich-abendländischen Werte die Leitkultur. Verbindlich sind für sie jene Werte, die im Grundgesetz stehen: "Die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen, sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Gleichwertigkeit der Menschen und die sich aus ihr ableitende Gleichheit der Rechte der Bürger, die Anerkennung der Lebensentwürfe und geistigen Orientierungen anderer und damit auch der Respekt vor der Freiheit des religiösen Bekenntnisses."

Eine Kurzfassung der Vorstellung der Union stammt vom damaligen CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt aus dem Jahre 2010: Deutsche Leitkultur sei "das Christentum mit seinen jüdischen Wurzeln, geprägt von Antike, Humanismus und Aufklärung". Ein "Bayerisches Integrationsgesetz" verpflichtet seit 2016 Migranten zur "unabdingbaren Achtung" der Leitkultur.

Thomas de Maizière hat diese Auffassung nun noch einmal in teils sehr vereinfachende Formulierungen eingedampft wie: "Wir sind nicht Burka." Etwas differenzierter formulierte er immerhin, wir würden im religiösen Frieden leben, da das Recht unbedingten Vorrang über alle religiösen Regeln im staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenleben habe.

Die Reaktionen der politischen Gegner auf de Maizière waren wenig überraschend. Grünen-Chefin Simone Peter lehnt eine Debatte über eine Leitkultur pauschal ab. Und Martin Schulz, Kanzlerkandidat der SPD, sagte der SZ: "Die deutsche Leitkultur ist Freiheit, Gerechtigkeit und ein gutes Miteinander, so wie es im Grundgesetz steht."

Bei dem Verweis auf das Grundgesetz können sich die Politiker zum Teil auf den Philosophen Jürgen Habermas berufen. Von de Maizières Leitkultur hält er nichts, wie er in der Rheinischen Post erklärte. Es gebe eine politische Kultur, deren Kern die Verfassung sei. Davon unterscheidet Habermas eine "tradierte Mehrheitskultur". Die müsse akzeptieren, dass Minderheiten die Integrität ihrer Lebensform wahren. Mit anderen Worten: Alle dürfen tun, was sie wollen - solange sie nicht gegen die Verfassung und die Gesetze verstoßen. Minderheiten haben darüber hinaus das Recht, in ihrem Sinn auf Gesetzesänderungen hinzuarbeiten.

"Eine unerlässliche Klammer zwischen allen Menschen"

In einer idealen Welt könnte das reibungslos funktionieren. Die Realität allerdings sieht anders aus. Der Politikwissenschaftler Bassam Tibi etwa ist überzeugt, dass Demokratien einen Konsens über Werte und Normen als eine Art innere Hausordnung benötigen. Diese bezeichnete der Adorno-Schüler bereits 1996 als "Leitkultur" - und führte den Begriff so ein. Eine Leitkultur ist dem Deutschen syrischer Herkunft zufolge "eine unerlässliche Klammer zwischen allen Menschen in einer Gesellschaft, unabhängig von ihrer Religion, Ethnie oder Ursprungskultur".

Die Forderung, dass sich alle an das Grundgesetz und die Gesetze halten, reicht laut Tibi nicht aus. Zu groß sei die Gefahr, dass sich manche Gruppen dazu nur verpflichtet fühlen könnten, solange sie in der Minderheit seien, nicht aber aus Überzeugung. Solche Gruppen sind etwa rechtsextreme Netzwerke. Bei Tibi im Vordergrund stand allerdings die Sorge, dass manche Muslime in Deutschland Parallelgesellschaften bilden könnten. Dass solche bereits existieren, davor warnt auch der Psychologe Ahmad Mansour, der vor allem durch seinen Kampf gegen die religiöse Radikalisierung von muslimischen Jugendlichen bekannt geworden ist.

In solchen Parallelgesellschaften würden andere Werte hochgehalten als die des Grundgesetzes, warnt Tibi, der selbst Muslim ist. Er befürchtet, dass dort Islamisten die Scharia propagieren, "die sich zum Grundgesetz wie Feuer zu Wasser verhält". Das bedeutet, auch wenn offiziell alle Gesetze eingehalten werden, könnten sich dort eine Weltanschauung und ein Menschenbild verbreiten, die mit den Ansprüchen des Grundgesetzes nicht übereinstimmen. Das kann zum Beispiel die Gleichbehandlung von Männern und Frauen und den Umgang mit Homosexuellen betreffen.

Der Verweis auf das Grundgesetz reicht nicht aus

"Man springt zu kurz, wenn man lediglich auf das Grundgesetz verweist", sagt auch der Philosoph Julian Nida-Rümelin. "Das Grundgesetz ist eine normative Ordnung", so Nida-Rümelin im Bayerischen Rundfunk. Artikel 1, Absatz 1 -" die Würde des Menschen ist unantastbar"- sei die zentrale Norm dieser Ordnung. Aber es ginge nicht nur um die Rechtsordnung. "Es geht um die alltägliche Kultur des Respekts, der Anerkennung, der Kooperation."

Die Anerkennung der Gleichwertigkeit der Geschlechter zum Beispiel sei ein ganz wesentlicher kultureller Wert, der nicht allein in der rechtlichen Gleichstellung bestehe, sondern weit darüber hinausgehe. Mädchen und Jungen müssten tatsächlich in einer Kultur der Gleichrangigkeit, der Gleichwertigkeit aufwachsen.

Auch ein Blick zurück belegt, dass die Berufung auf das Grundgesetz von 1949 nicht ausreicht. Denn das, was dort festgelegt ist, wird von Generation zu Generation verschieden ausgelegt, im alltäglichen Miteinander unterschiedlich gelebt und auch in neue Gesetze gegossen. So wurden über Jahrzehnte Frauen und Homosexuelle sogar gesetzlich diskriminiert. Hier hat sich viel verändert - wenn es auch noch immer keine vollständige Gleichberechtigung gibt. Das, was wir unter Kultur verstehen, geht also weit über das hinaus, was Verfassung und Gesetze bestimmen.

Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) stellte deshalb vor Jahren schon zu Recht fest, dass "eine Gesellschaft einen Mindestbestand an gemeinsamen Überzeugungen und Orientierungen braucht, ohne die auch ihre Regeln und gesetzlichen Rahmenbedingungen auf Dauer gar nicht funktionieren können".

Es geht nicht um deutsche oder christlich-abendländische Werte

Damit stellt sich wieder die Frage, wie eine Leitkultur nun aussehen und wer ihren Inhalt eigentlich bestimmen sollte. Die Feststellung der Union, es gebe eine spezielle deutsche Leitkultur, die auch auf spezifisch christlichen Werten beruhen soll, ist jedenfalls äußerst fragwürdig.

Nida-Rümelin etwa hält nichts von der Idee, Patriotismus - also die Liebe zum Vaterland - könne Teil einer Leitkultur sein. Ein Land zu lieben, könne niemandem vorgeschrieben werden.

Es lässt sich auch nicht eindeutig sagen, was genau deutsch an einer deutschen Leitkultur wäre. So dürften die Deutschen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation ziemlich anders "deutsch" gewesen sein als während der Aufklärung, unter Kaiser Wilhelm II., unter Adolf Hitler, Konrad Adenauer oder Gerhard Schröder.

Fragwürdig ist auch die Berufung auf das abendländische Christentum mit jüdischen Wurzeln. Nicht nur werden Muslime so weiter ab- und ausgegrenzt. Ausgerechnet die von der Union betonten Leitkultur-Werte des Grundgesetzes wie die Menschenwürde oder die Gleichberechtigung sind ja nicht originär christlichen Ursprungs.

Sie wurden erst seit der Aufklärung und teils gegen den heftigen Widerstand der Kirchen durchgesetzt. Das Beharren der Unionspolitiker auf eine christlich-abendländische Leitkultur ist deshalb anmaßend und ein Affront gegenüber allen Nichtchristen, seien es nun Andersgläubige oder Atheisten.

"Primat der Vernunft"

Es geht aber auch anders: Schon Bassam Tibi forderte eine Leitkultur der "kulturellen Moderne". Seine "europäische Leitkultur" enthält "das Primat der Vernunft vor religiöser Offenbarung, das heißt vor der Geltung absoluter Wahrheiten; individuelle Menschenrechte (also nicht Gruppenrechte), zu denen im besonderen Maße die Glaubensfreiheit zu zählen ist; säkulare, auf der Trennung von Religion und Politik basierende Demokratie; allseitig anerkannten Pluralismus sowie ebenso gegenseitig geltende Toleranz, die bei der rationalen Bewältigung von kulturellen Unterschieden hilft".

Die Anerkennung dieser Werte würde dazu führen, dass Menschen einerseits das Recht auf ein Anderssein und Andersdenken besitzen - etwas, das auch schon im Grundgesetz steht. Zugleich aber fordert eine solche Leitkultur, dass im Alltag, im Umgang miteinander nicht nur die Gesetze, sondern auch nicht gesetzlich festgelegte Regeln befolgt werden, die zur gegenseitigen Toleranz und zu Respekt voreinander verpflichten. Das bedeutet etwa, dass die Mehrheit es zu tolerieren hat, wenn manche Muslime und orthodoxe Juden Personen des jeweils anderen Geschlechts nicht die Hand geben wollen. Und jede Frau hat das Recht, eine Burka zu tragen. Zugleich müssen die Betroffenen aber akzeptieren, dass die Leitkultur in unserer Gesellschaft das Menschenbild, das dahinter steht, ablehnt.

Als "europäisch" bezeichnete Tibi seine Vorstellung von Leitkultur, weil er sie auf die Aufklärung zurückführte, die ihren Ursprung in Europa hatte. Darüber hinaus hofft er auf die Entwicklung einer europäischen Identität und eines modernen, antifundamentalistischen "Euro-Islam" unter Europas Muslimen.

Leitkultur Humanismus und Aufklärung

2005 griff der Philosoph und Religionskritiker Michael Schmidt-Salomon Tibis Begriff der Leitkultur auf und erweiterte ihn: Er fordert eine "Leitkultur Humanismus und Aufklärung". Schließlich habe es nicht nur in Europa, sondern in allen Ländern, auf allen Kontinenten und auch zu allen Zeiten Menschen gegeben, die sich für eine humane, aufgeklärte Sicht der Welt eingesetzt haben.

Schmidt-Salomon wurde zudem konkret, wie eine Leitkultur Humanismus und Aufklärung in der Gesellschaft durchgesetzt werden könnte. Um ihr Bedeutung zu verschaffen, müssten auch im Bildungsbereich neue Wege beschritten werden.

Bereits Julian Nida-Rümelin hatte 2006 eine "Leitkultur des Humanismus" gefordert. Ihm ging es um eine Erneuerung der kultur- und bildungspolitischen Ideale mit dem Ziel, bei Schülern und Studierenden freie Persönlichkeit, Urteilskraft und Entscheidungsstärke zu fördern, statt sie auf "Employability", eine optimale Verfügbarkeit auf dem Arbeitsmarkt zu trimmen.

Schmidt-Salomon wünschte sich darüber hinaus die Abschaffung des Religionsunterrichts an den Schulen. Stattdessen müsste flächendeckend ein integrativer, wissenschaftlich und philosophisch fundierter Werteunterricht eingeführt werden. Hier sollten die "klar benennbaren Verfassungswerte" behandelt werden, "die als Minimalkonsens das Zusammenleben der Menschen regeln" sollen. Es sind dies jene, die sich auch in den Grundsatzpapieren der Unionsparteien finden - nur ohne alles nationale und religiöse Beiwerk.

Es wäre schön, wenn es endlich so weit wäre. Zwar ist der Werteunterricht an Schulen umstritten, immerhin ist der Staat zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet. Schülerinnen und Schülern diese Werte zu vermitteln, kann kaum dagegen verstoßen. Im Gegenteil sollten den Kindern die in der Verfassung verankerten Rechte wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Freiheit der Wissenschaft und der Kunst nachhaltig vermittelt werden. Der Nachwuchs sollte die Prinzipien der Rationalität, Freiheit, Gleichheit, Individualität, Solidarität und Säkularität lernen. Es geht hier um jene mühsam errungenen Werte, hinter die unsere Gesellschaft nie mehr zurückfallen darf.

Ein entsprechender Werteunterricht würde lediglich dann gegen die weltanschauliche Neutralität des Staates verstoßen, wenn das Recht auf Unwissenheit einen Wert darstellen würde.

"Freiheitsandrohung der offenen Gesellschaft"

Zur Leitkultur muss auch die Überzeugung gehören, dass wir unsere offene Gesellschaft gegebenenfalls gegen innere und äußere Feinde verteidigen müssen. Allerdings nicht mit Mitteln, die sie in eine geschlossene Gesellschaft verwandeln. So müssen Menschen selbstverständlich immer und überall respektiert werden, selbst die albernsten Vorstellungen müssen toleriert werden, solange sie niemandem gefährlich werden. Nicht toleriert werden dürfen dagegen Ideologien, die die Grundwerte in Frage stellen. Die dürfen wir verachten und lächerlich machen, und wenn sie gefährlich sind, müssen wir sie mit allen zivilen Mitteln bekämpfen.

Deutschland könnte mit einer solchen Leitkultur ein Staat sein, der Flüchtlinge nicht wegen ihres kulturellen Hintergrundes an den Grenzen abweist. Stattdessen könnte ihnen vermittelt werden, was ihnen hier ermöglicht wird, aber auch was ihnen unbedingt zugemutet wird.

Schmidt-Salomon spricht heute von "der Freiheitsandrohung der offenen Gesellschaft": Deutschland, so wünscht er sich, müsste Botschaften in die Welt senden, wie die, dass dies das Land ist, "in dem Sie glauben dürfen, was immer Sie wollen, in dem wir Ihren Kindern aber von der Pike auf beibringen werden, dass nur solche Weltanschauungen akzeptabel sind, die die Menschenrechte in vollem Umfang anerkennen". Wer das nicht will, wird sich hoffentlich freiwillig eine andere neue Heimat suchen als Deutschland.

Um zu dieser Botschaft zu kommen, reicht der Verweis auf das Grundgesetz nicht aus. Unsere Gesellschaft sollte sich auf eine entsprechende Leitkultur verständigen und sie über das Bildungssystem vermitteln. Nur die ehrliche Anerkennung der Werte, die in unserer Verfassung stecken - und nicht nur die erzwungene Unterwerfung unter die Gesetze -, stellt das Rüstzeug der Gesellschaft zur Verteidigung der Demokratie gegen ihre Feinde dar, seien es rechte, linke oder religiöse Fanatiker.

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