TV-Kritik: Maybrit Illner:Wer ist Deutschland - und wenn ja, wie viele?

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Sinnieren über ein Land, dem Neu-Präsident Wulff als Stilberater dienen will: Da stoiberten Zahlen auf, und Monika Maron empörte sich über die Funktionskaste der Politiker.

Alexander Kissler

Der gewählte, aber noch nicht vereidigte Bundespräsident Christian Wulff hat ein großes Ziel: Er will dazu beitragen, dass künftig "Stilfragen der Politik" genauso wichtig genommen werden wie Inhaltsfragen. Sein neues Amt nennt er ein interessantes Projekt. Bürgerkritik wolle er ernstnehmen und zugleich "für die Kompliziertheit der politischen Prozesse werben".

Monika Maron, bekennende Gauck-Sympathisantin, war gekommen, um der Empörung eine Stimme zu geben. (Foto: dpa)

So also ließ Wulff sich vernehmen, im Viertelstundenplausch unter dem Titel Farbe bekennen am Donnerstagabend im Ersten. Eine halbe Stunde später zerstreute ein schriller Chor bei Maybrit Illner im ZDF jeden Zweifel, dass Projektemacher Wulff je die Projekte ausgehen könnten. Nach einem neuen Politikstil wird gefahndet, der alte klingt sehr nach Haubitzengeschrei und Klassenkampf. Komplizierter waren die Zeiten nie.

Das ZDF wollte da seinen Part erfüllen und begann mit großem Getöse. Als die Kamera die Gesichter der Gäste abtastete, bei jedem kurz verweilte und dazu kernige Sätze ertönten, legte man der Schriftstellerin Monika Maron Worte in den Mund, die sie partout nicht gesagt haben kann. Frau Maron, tönte es aus dem Off, sei der Meinung, Kanzlerin Merkel habe bei der Präsidentenwahl "was auf die Mütze gekriegt", ja, "sich selbst ins Knie geschossen".

Sollte wirklich die feinsinnige Anwältin eines neuen Stils, als die sich Maron präsentierte, derart derb vom Leder ziehen? Dann wäre sie eine klassische Fehlbesetzung, ein peinlicher Fall. Sie war es im Gespräch keineswegs. Es bleibt ein Betriebsgeheimnis des Mainzer Senders, wie diese Sätze im Gefreitenjargon den Weg auf die Tonspur finden konnten.

Wer was auf die Mütze kriegt

Monika Maron, bekennende Gauck-Sympathisantin, war gekommen, um der Empörung eine Stimme zu geben. Sie hörte Edmund Stoiber (CSU) reden zu ihrer Rechten, wie er Angela Merkel bei ihrem für Samstag angekündigten Tribünenbesuch ein "wunderbares Erlebnis in Südafrika" wünschte und Wulffs Kür im dritten Wahlgang ein "5:0 im Elfmeterschießen" nannte (was es, nebenbei bemerkt, gar nicht geben kann, bei 3:0 wäre Schluss); sie hörte Otto Fricke (FDP) reden zu ihrer Linken, der höflich Joachim Gauck, den wählbaren, von Christian Wulff, dem besseren Kandidaten unterschied, und sie setzte dagegen: "Etwas Ungeheuerliches ist passiert. Irgendetwas ist total schief." Stoiber und Fricke müssten da doch sehr beunruhigt sein. "Die Leute" seien empört, "die Politiker" aber redeten weiter, als sei nichts geschehen.

Das Schiefe, das Ungeheuerliche präzisierte sie wenig später. Gaucks Popularität sei ein gewaltiger Protest gegen einen "Ton, der nur noch aus Worthülsen besteht. Die Leute wollen endlich was anderes hören." Gauck ist in dieser kommunikationstheoretischen Sicht das Symbol für eine neue Lauterkeit und Direktheit im Umgang. Schluss soll sein mit dem "parteipolitischen Pragmatismus". Dass der Kandidat Gauck seinerseits hervorging aus präzisen parteipolitischen Erwägungen, ist in diesem Erklärungsmuster nicht vorgesehen. Monika Maron wollte symbolisch reden - und sie tat es bis zu jenem Punkt, da sie den Politikern vorwarf, "uns für blöd zu halten", wenn das Gefeilsche um Wulff als gute demokratische Übung verkauft werde.

Otto Fricke nutzte die Gunst, der Maron'schen Empörung sein eigenes Schlüsselwort entgegenzuhalten: Respekt. "Sind Politiker", fragte er listig zurück, "nicht auch Menschen, die genauso mit ihren Ängsten zu tun haben, die genauso ihre Arbeit machen?" Da vermisse er leider den Respekt. Monika Maron aber hielt fest an ihrer strengen Scheidung. "Normale Menschen" redeten anders als "Funktionsträger", und darum empörten diese jene. Der "Ton zwischen Regierten und Regierenden" müsse sich grundlegend ändern.

Dieser Mann der Agenda 2010

Politikerin ist auch Gesine Lötzsch. Die Vorsitzende der Linken saß neben ihrem weltanschaulichen Antipoden Fricke. Nein, sie thronte dort über Gerechte und Ungerechte, ein Buddha in Frauengestalt, und zeigte so ganz plastisch, dass das Beharrungsvermögen zur Kerntugend ihrer Partei zählt.

Gauck sei nun einmal als "Mann der Agenda 2010" untragbar für ihre Wähler, so Lötzsch. Deshalb sei immer klar gewesen, dass aus dieser Richtung keine Stimmen für ihn zu erwarten waren. "Die SPD hat sich verzockt": Sprach's und lächelte, blinzelnd und sehr mit sich zufrieden, ins Publikum, wie fortan bei jeder Eingabe. Die verbale Kraftmeierei überließ sie dem Gewerkschaftskollegen Frank Bsirske. Der Verdi-Chef erregte sich sehr eindrucksvoll darüber, dass die schwarz-gelbe Regierung "reiche Erben und große Unternehmer" schone, "die Armen" aber belaste. Fricke wusste zu erwidern, dass eine elfjährige Herrschaft der SPD über das Finanzministerium zu 350 Milliarden Euro neue Schulden geführt habe. Ob so eine nachhaltige Politik aussehe?

Das Feld der großen Zahlen aber will Edmund Stoiber nicht preisgeben. Der CSU-Ehrenvorsitzende und Brüsseler Chef-Entbürokratisierer brachte seine Lieblingsfloskel "letzten Endes" mehrfach unter, ebenso manche Zahlenreihe. Anno 1964, erklärte der ehemalige bayerische Ministerpräsident gern, wurden in Deutschland 1,7 Millionen Kinder geboren, heute seien es noch 600.000.

Empörung also hin, Respekt her, auf ein Drittes käme es nun wirklich an: auf die Generationengerechtigkeit. Darunter waren dann vor allem das deutsche Sparpaket und die globale Sparpolitik zu verstehen. "Die Bevölkerungsverschiebung zwingt uns zu substanziellen Veränderungen", ganz neu entwickeln müsse man deshalb das Gespür für die "Interessen zwischen Gegenwart und Zukunft", so Stoiber. Ins Pragmatikerdeutsch übersetzt: Runter mit den Schulden, runter mit den Staatsausgaben, mehr Eigenbeteiligung!

Der empörten Symbolistin, dem Anwalt des Respekts, dem weiblichen Buddha und dem Klassenkämpfer folgte so der generationengerechte Zahlenvirtuose und damit die Erkenntnis: An Streit herrscht kein Mangel in jenem Land, das Christian Wulff, wie er in der ARD heiter eingestand, liebt.

Es scheint nicht ein einziges Deutschland zu geben, sondern so viele verschiedene Deutschlandbilder wie Bürger, die in ihm leben. Jeder ist sich selbst sein eigenes Projekt. Für den neuen Präsidenten sind das glänzende Aussichten.

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