ZDF-Serie über den Berliner Friedrichstadt-Palast:Tanz der Gefühle

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Svenja Jung als Tänzerin Chris, die nicht weiß, dass im Publikum des Friedrichstadt-Palasts ihre Zwillingsschwester sitzt. (Foto: Julia Terjung/ZDF)

Doppeltes Lottchen im geteilten Deutschland: Svenja Jung ist die Wucht in der ZDF-Serie "Der Palast".

Von Harald Hordych

Der Produzent Rüdiger Böss hat ein kleines verbotenes Geschenk in die Villa am Starnberger See mitgebracht. In der Lobby warten ein paar Leute vom Cast. Ein Stockwerk höher dreht Uli Edel gerade eine Szene mit Friedrich von Thun und Heino Ferch. Da taucht Böss mit seinem Laptop auf: Edel darf nicht wissen, was er gleich zeigen wird, denn die Bilder sind noch nicht freigegeben. Auch die Schauspielerinnen Svenja Jung und Inka Friedrich wollen die ersten Aufnahmen von der Kickline ihres Friedrichstadt-Palasts sehen, der mit 32 Frauen größten Tanzreihe der Welt, die für die Produktion inszeniert wurde. Die Bilder sind spektakulär, das kleine verschworene Publikum ist angetan. Dann ist der Varieté-Spuk vorbei. Alle warten wieder auf ihren nächsten Dreh-Einsatz.

Da fällt einem ein, was Uli Edel auf der Fahrt zu der Unternehmervilla über den Palast gesagt hat: "Es faszinierte mich sehr, wie unglaublich diszipliniert diese Frauen arbeiten. Das ist natürlich auf der Bühne ein optisches Fest." Edel setzt eine Pause und führt dann fort: "Dass die Mädchen alle wunderbar tanzen können, hat man aber irgendwann kapiert, und die Geschichte muss weitererzählt werden."

Svenja Jung tanzt, seit sie sechs Jahre alt ist, hier tanzt sie durch ein wuchtiges Sittengemälde

Ja, der fürs ZDF produzierte Palast wird am Ende einige wirklich beeindruckend gefilmte Tanzszenen bieten. Aber er ist 270 Minuten lang geworden, und getanzt wird höchstens eine Viertelstunde. Auch wenn der Friedrichstadt-Palast in Berlin mit seinen Shows so etwas wie der heimliche Hauptdarsteller ist und es ein großer Anreiz für Edel war, eine Geschichte über das "Las Vegas des Ostens" zu erzählen - den Dreh- und Angelpunkt bildet die Geschichte um Zwillingsschwestern, die nach ihrer Geburt kurz vor dem Mauerbau getrennt werden.

Chris wächst im Ostberlin auf und wird Tänzerin im Friedrichstadt-Palast-Ensemble, Marlene wächst im Westen als Tochter eines Bamberger Unternehmers zur toughen Geschäftsfrau heran. Und diese doppelte Hauptrolle spielt die Frau, die gerade still auf den Monitor geschaut hat. Svenja Jung tritt praktisch in jeder Szene auf und war an jedem der 80 Drehtage am Set. Wenn bei einem so wuchtig angelegten Sittengemälde um die deutsche Teilung und den Mauerfall 1989 die doppelte Hauptfigur das Publikum nicht berührt, dann könnte Böss seinen Laptop mit den tollen Tanzszenen auf dem Flohmarkt verhökern. Und deshalb ist die Leistung von Svenja Jung als Chris und Marlene gar nicht genug zu preisen. Sie ist der Schlüssel für diese sechsteilige Serie - und ihr Auftritt bestätigt Edels Einschätzung, dass sie ein "großer Glücksfall" gewesen sei. Er habe lange suchen müssen, bis er sie gefunden hatte: "Eine äußerst begabte Nachwuchsschauspielerin, die noch dazu eine verdammt gute Tänzerin ist."

Der Friedrichstadt-Palast in Berlin. (Foto: Sergi Reboredo/imago images/VWPics)

Svenja Jung hat schon in anderen Filmen überzeugt. Für ihre Darstellung in dem Drama A Gschicht über d'Lieb, in der es um eine Geschwisterliebe auf dem Land geht, erhielt sie 2019 den Bayerischen Filmpreis als beste Nachwuchsschauspielerin. In Fucking Berlin spielte sie eine Studentin, die sich prostituiert, und sie spielt das ohne jede Koketterie, ernsthaft, mutig, mit Ehrlichkeit und Hingabe. Und sie hatte seit ihrem sechsten Lebensjahr getanzt, auch als Siegerin bei Showtanz-Landesmeisterschaften, auch als Tanzmariechen beim Karneval, mit dem sie in einem kleinen Dorf bei Montabaur aufgewachsen ist. "Nicht mal die Leute in den Dörfern neben Weroth kennen Weroth, so klein ist Weroth", erzählt sie in der Drehpause. Jetzt lebt sie mal hier und mal da in Berlin.

Der Palast ist nicht ihrer erster Tanzfilm. In Fly tanzte sie mit Hip-Hop-Weltmeistern. Sie hatte gejubelt, als sie die Zusage kam: "Doppelte Hauptrolle als Zwillinge und ein Tanzfilm - mehr geht nicht. Aber dann habe ich schnell gemerkt, was das für eine riesige Herausforderung ist."

Der Palast ist die Geschichte zweier deutscher Familien, der ideologische Graben, der sie trennt, könnte tiefer nicht sein: Als die Mauer 1961 gebaut wird, will der Unternehmersohn Roland Wenninger, der in West-Berlin studiert, aber mit seiner jungen Frau Rosa in Ost-Berlin lebt, nach West-Deutschland zurückkehren. Rosa aber ist die Tochter überzeugter Kommunisten, sie will bleiben. Nachts nimmt Roland eine der beiden Zwillingsschwestern mit in den Westen, der Ausgangspunkt des Dramas.

Mitten im Kommunismus stand diese leuchtende Kathedrale der Illusionen, das hat Edel fasziniert

Die eigentliche Geschichte setzt 27 Jahre später ein, im Herbst 1988. Da reist die Unternehmertochter Marlene nach Ost-Berlin, um mit dem DDR-Außenhandelsministerium Verhandlungen zu führen. Die Funktionäre lassen sich nicht lumpen und führen das Beste vor, was der Osten zu bieten hatte, auch Edel hatte der Schauplatz sehr gereizt: "Ein erfolgreicher Entertainment-Ort im kommunistischen Ost-Berlin, dessen Straßen nachts immer dunkler waren als in West-Berlin - und mittendrin stand diese leuchtende Kathedrale der Illusionen wie eine Provokation genau gegenüber dem ehrwürdigen Brechttheater."

Im 1984 eingeweihten neuen Friedrichstadt-Palast bewundert die junge Geschäftsfrau Marlene höflich das Treiben auf einer der größten Showbühnen der Welt, bis ihr eine der Tänzerinnen auffällt. Mit dem Opernglas wird der erste Eindruck zur Gewissheit: Marlene schaut sich selbst beim Tanzen zu. Mit dieser Szene beginnt die auf das Doppelte-Lottchen-Prinzip aufgebaute Dramamaschine zu arbeiten. Die Schwestern begegnen sich, sie tauschen die Rollen, tauchen in die jeweils fremde Lebenswelt ein. Geschäftsfrau wird Tänzerin, die nicht tanzen kann, Tänzerin wird Geschäftsfrau, die nicht verhandeln kann.

Die Kickline des Palasts ist mit 32 Tänzerinnen eine spektakuläre Inszenierung im Film. (Foto: Julia Terjung/ZDF)

Doch Edel und Drehbuchautorin Rodica Doehnert haben kein komödiantisches Spiel um Verwechslungen und Situationskomik im Sinn. "Die Themen sind zum Teil sehr ernst gehalten. Das Drama bleibt im Vordergrund", sagt Edel. Bei allem Tanzfilm-Glamour ist Der Palast über weite Strecken ein Melodram. Das aber punktet mit viel hölzernem, aber nie albernen Ost-Charme und mitunter loriothaft anmutenden, aber nie lächerlich wirkenden steifem West-Unternehmer-Gehabe. Edel zielt auf die inneren Schlachten der Hauptfiguren, und damit auf die Lebenslügen der Eltern, ihre enttäuschten Hoffnungen, ihre Schuldgefühle. Und die Seelenheil bringende Befreiung aus den Zwängen beider Systeme. Klingt nobel, aber gefährlich, weil Kitsch nie weit ist, wenn die Gefühle hochgefahren werden.

Aber der Plan geht auf: Rodica Doehnert schafft das mit knappen, sachlichen Dialogen, die den Alltagston von Grenzern genauso treffen wie die hochemotionalen Auseinandersetzungen der geteilten Eltern mit ihrem jeweils plötzlich aufgetauchten zweiten Kind. Edel trägt das Seine dazu bei mit einer sehr fein auf die Nuancen, die Blicke, das kurze Hinschauen, die kleinen dramatischen Momente abzielenden Regie. Hinterbühnendrama, Konkurrenzkampf um die Solo-Rolle, das Ringen mit bornierten Parteisekretären, denen die neue Produktion zu sehr ein Verrat am sozialistischen Realismus ist, dazu ein eingekaufter westlicher Star-Choreograf, der den Palast endgültig auf Las-Vegas- und Paris-Niveau heben soll - das ist der Stoff für Palast-Dramen wie für familiäre Offenbarungen. Dieser seriöse Anspruch aber hat Svenja Jungs Aufgabe nicht leichter gemacht.

Doppelrollen, noch dazu von Zwillingen, lassen sich nicht ohne die Vorläufer denken: Liselotte Pulvers grandiose Darstellung von Zwillingschwestern in Kohlhiesels Töchter schöpfte ihre komödiantische Klasse aus dem Extrem "Bauerntrampel trifft elegante Dame". Svenja Jung und Uli Edel verordneten sich aber ein Karikatur-Verbot. Darum hat Svenja Jung auch nicht die beeindruckenden Tanzszenen als größte Herausforderung empfunden. Obwohl die Strapazen beträchtlich waren: Der Friedrichstadt-Palast wurde renoviert. Daher konnte nur nachts auf der Hauptbühne gedreht werden. Dort spielen aber alle Tanzszenen. Fünf Wochen lang mussten Jung und die Tänzerinnen jede Nacht bis sieben Uhr morgens drehen. Da hat sie auch ein paar "kleine Breakdowns" gehabt: "Dann saß ich heulend in der Maske."

Eigentlich geht es um das Eingesperrtsein in Systemen, und zwar im doppelten Sinn

Wie spielt man Gefühlsausbrüche zweier Menschen authentisch, ohne dass sie identisch wirken? Das war das Allerschwerste und die Aufgabe, "dass beide Figuren so voll und ehrlich und nachvollziehbar sein sollen, sich aber unterscheiden müssen". Die Künstlerin und die Geschäftsfrau unterscheiden sich tatsächlich, ohne dass Svenja Jung ein einziges Mal aufdringlich agiert. Sie spielt bestechend einfach und glaubhaft und immer berührend. Unterstützt wird sie von einem ausgezeichneten Cast: Anja Kling als Zwillingsmutter Rosa Steffen, Heino Ferch als Roland Wenninger, August Wittgenstein als rübermachender Arzt Georg und Jeanette Hain als kaltgestellte Ost-Choreografin darf man stellvertretend nennen. Viele andere hätten es ebenso verdient.

Der Palast ist ein unterhaltsames wie einfühlsames DDR-BRD-Sittengemälde geworden, das ebenso viel über mitreißende Tanzdarbietungen erzählt wie über Verletzungen, das Verdrängen eigener Fehler, das Eingesperrtsein in gesellschaftlichen Denkmustern. Die beste inhaltliche Pointe formuliert Svenja Jung selbst: "Das Schöne ist ja, dass Chris eigentlich die Freiere von den beiden ist, obwohl sie im System mehr eingesperrt ist. Die Reichere, die im Westen lebt, ist bei aller gesellschaftlichen Freiheit, die sie genießt, die emotional Eingesperrtere." Mauern in den Köpfen und Herzen gibt es in jedem System.

Der Palast , ZDF, sechs Folgen, jeweils in Doppelfolgen am Montag, Dienstag und Mittwoch und in der ZDF-Mediathek .

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