Am Tiefpunkt ihres Lebens glaubt Annie Landsberg nur noch an die Drogen des Pharmaunternehmens Neberdine Pharmaceutical und Biotech. Der Konzern rekrutiert Probanden für eine Arzneimittelstudie, verspricht Genesung von jeglicher psychischen und geistigen Belastung und Krankheit, egal ob leichter Herzschmerz oder schwere Depression.
Annie ist arbeitslos, kauft Waschmarken mit geklautem Münzgeld, die Schwester ist tot, die Mutter abgehauen. Von der Studie und den Medikamenten erhofft sie sich ein neues, glücklicheres Ich. Genau wie Owen Milgrim. Ihm diagnostizierten Ärzte vor Jahren Schizophrenie. Er sieht Menschen, wo keine sind, beschließt, das müsse aufhören, und findet sich wie Annie in einer Schlafkoje im Labor wieder, voll mit Pillen, die ihn auf eine Traumreise in die Tiefen seines Unbewusstseins schicken. Dort ist er, was er in der Realität nicht sein kann, der Maniac.
Dieser einer neuen Netflix-Serie ihren Titel gebende Verrückte ist in Norwegen längst bekannt. Denn lange bevor der Streamingriese den True Detective-Regisseur Cary Joji Fukunaga, die Oscargewinnerin Emma Stone und den Schauspieler Jonah Hill engagierte, strahlte der norwegische Sender TV2 2014 die gleichnamige Originalserie aus. Darin erlebt ein schizoider Mann Abenteuer in gedanklichen Fantasiewelten, während er in Wahrheit in der Psychiatrie steckt. Im Original heißt er nicht Owen, sondern Espen, und anders als Owen hat Espen keine Leidensgenossin namens Annie; wenn Espen mal mit einer Frau im Fahrstuhl fährt, dann ist es höchstens seine Psychologin.
Mit Maniac setzt sich fort, was im amerikanischen Film- und Serienmarkt ständig geschieht: Produzenten durchstöbern das europäische Fernsehprogramm nach Geschichten mit genug Potenzial, um daraus Serien nach den US-Produktionsstandards zu machen. Sie adaptieren - und loten dabei die Grenze zwischen Anregung und Abklatsch aus.
Die dänischen Serien Die Brücke und Kommissarin Lund wurden zu The Bridge und The Killing, und Les Revenants aus Frankreich ist The Returned, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Die Drehbuchlizenz an einer Serie zu kaufen entspringt dem Wunsch nach lokalem Geschichtenerzählen. Denn der Erfolg einer Serie hänge stark davon ab, wie sehr sich Zuschauer mit den Figuren und Schauplätzen einer Serie identifizieren könnten, sagt die Medienwissenschaftlerin Susanne Eichner. An der Universität Aarhus erforscht sie transnationale Serienkultur, deren Rezeption und den Exporterfolg von skandinavischen, vor allem dänischen Serien.
Eichner fand heraus, dass Originalen - sofern sie es denn über die heimischen Ländergrenzen hinweg ins ausländische Programm schafften - oft ein elitäres Image anhafte. "In Deutschland wird mit Serien wie Borgen oder Kommissarin Lund noch ein Mainstream-Publikum erreicht. Je weiter wir uns aber von Skandinavien, dem heimischen Markt, entfernen, interessieren sich weniger Zuschauer dafür."
Netflix ' Maniac übertrifft das Original mit tiefgründiger Psychologie
Sender würden also ein Risiko damit eingehen, ausländische, fremdsprachige Serien zu erwerben, zu ungewiss sei die Reaktion des Publikums auf das Exotische. Lieber also Bewährtes aus anderen Ländern auf heimische visuelle und dramaturgische Konventionen anpassen. Gelegentlich ganz eng am Original, sodass aus der Adaption schnell mal eine Kopie wird. Mit fragwürdigem Ergebnis, wie Gracepoint, das US-Pendant zur britischen Serie Broadchurch. Autor, Schauspieler, Regisseur, und Handlung sind komplett identisch. Nur der Drehort wanderte von Südengland nach Kalifornien. Der Sinn hinter solch einer Zweitproduktion? Kaum erkennbar.
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Im besten Fall hingegen ist das Original lediglich Inspiration, gute Ideen entwickeln sich zu noch besseren. Mit Maniac ist das gelungen. Während sich das Original auf zwanzigminütige Fragmente von Espens Eskapaden in der Fantasiewelt beschränkt und eher kurzweilige Unterhaltung statt vielschichtiges Geschichtenerzählen ist, statten Regisseur Fukunaga und Autor Patrick Somerville die Hauptfiguren in der Netflix-Version mit einer tiefgründigen Psychologie aus. Sie schaffen damit die Grundlage für eine Geschichte in einer komplexen, aber in sich immer schlüssigen Welt. Die Handlungen der einzelnen Folgen verknüpfen sich elliptisch zu einem übergeordneten Muster, zu der großen philosophischen Frage: Was ist überhaupt Realität? So entspinnt sich eine Odyssee durch Bewusstseinsschichten und Erzählebenen, eine große Gedankenakrobatik für die Zuschauer.
Im Versuchslabor merkt Owen Milgrim, ein apathischer Kerl und von großer Traurigkeit, auf seiner Fantasiereise in die zerrüttete Psychologie seiner selbst, dass es eine Person gibt, die ihm sprichwörtlich nicht aus dem Kopf geht: Annie Landsberg, die er gerade erst im Labor kennengelernt hat. Physisch liegt sie neben ihm, angeschlossen an Maschinen, die ihre Hirnaktivität messen. Mental ist sie versunken in ihre von Tabletten evozierten Träume, die sich immer stärker mit Owens Träumen zu verbinden beginnen.
Alles, was die beiden in ihren Köpfen erleben und wohin Fukunaga auch die Zuschauer entführt, erleben sie gemeinsam. Die Forscher, darunter Schauspieler Justin Theroux als irrwitzig-selbstzweifelnder Wissenschaftler mit Mutterkomplexen, verstehen nicht, warum die Gedanken der beiden verschmelzen. Und dann kommt es auch noch zu technischen Problemen.
Emma Stone und Jonah Hill sind das perfekte imperfekte Paar. Mal sind sie Agenten, dann ein verheiratetes Ehepaar auf Lemurenjagd, was so verstörend ist, wie es klingt, doch immer kämpfen Owen und Annie dabei gegen Trugbilder ihres melancholischen Unbewussten. Es sind diese Szenen, in denen die Handschrift des norwegischen Originals am stärksten durchschimmert, abstrus und ulkig, selbst das Skurrilste in dieser Serie ergibt letztlich Sinn. Maniac ist Kino im Fernsehformat. Dass es eine Adaption ist? Irrelevant. Die Welt, die Netflix mit der Serie aufspannt, funktioniert völlig autonom. Sie ist wie das Versuchslabor. Die Zuschauer sind die Probanden und die Folgen wirkungsvolle Drogen.
Maniac , von Freitag an bei Netflix.