Journalismus:Warum der Pressekodex in der Flüchtlingsdebatte Streitthema ist

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Sind diese Herren vielleicht Schweizer? Der Pressekodex sieht die Nennung der Nationalität nur bei begründbarem Sachbezug vor. (Foto: Blend Images/Getty Images)

Journalisten dürfen bei Straftaten nur in begründeten Fällen die Nationalität der Beteiligten nennen. Nach Köln gibt es an dieser Praxis heftige Kritik - die Richtlinie steht zur Diskussion.

Analyse von Karoline Meta Beisel

Der Deutsche Presserat wird von seinen Kritikern gerne als "zahnloser Tiger" verspottet. Für ein Kätzchen aber muss er dieser Tage ganz schön viel Kritik einstecken. Von Selbstzensur ist die Rede, von Sprachverboten und von Wortkosmetik. Der Vorwurf: Der von ihm erdachte Pressekodex verhindere, dass über kriminelle Ausländer berichtet werde. Wer es doch tue, riskiere eine Rüge. Darum mehren sich dieser Tage die Forderungen, die entsprechende Ziffer im Kodex zu reformieren. Um im Bild zu bleiben: Muss das Kätzchen an die Leine?

Am Mittwoch wird genau diese Frage im Presserat erörtert, dem Selbstverwaltungsorgan der Presse. Konkret geht es um die Richtlinie 12.1 des Kodex. Sie besagt, dass in der Berichterstattung über Straftaten die "Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt" wird, "wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht." So steht es dort mit minimalen Änderungen seit 1988. Sechs Jahre später kam noch ein Zusatz hinzu, der in der aktuellen Fassung lautet: "Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte."

Um Ziffer 12 habe es schon immer Diskussionen gegeben, sagt Lutz Tillmanns, der Geschäftsführer des Deutschen Presserates. Nach der Kölner Silvesternacht habe sich die Debatte aber verschärft. Damals war vielen Medien vorgeworfen worden, sie hätten die Nationalität der Verdächtigen mit Absicht lange verschwiegen. "Es ist eine große Verunsicherung in der redaktionellen Anwendung dieser Kodexrichtlinie zu spüren", sagt Lutz Tillmanns.

Lieber schweigen, als eine Rüge zu kassieren

Dem entspricht, dass die Zahl der Beschwerden wegen Ziffer 12 leicht gestiegen sind: 2015 waren es über das ganze Jahr insgesamt 100, die zu bewerten waren, sagt Tillmanns. In diesem Jahr gab es allein nach den Vorfällen von Köln schon 30 Beschwerden zum Thema.

Die Unsicherheit in den Redaktionen rührt auch daher, dass Ziffer 12 offen formuliert ist; dass dort eben nicht steht, dass bei Bandendelikten oder Mord die Herkunft immer erwähnt werden darf oder bei Fahrraddiebstählen von Flüchtlingen nie. Stattdessen wird dort "ein begründbarer Sachbezug" für das Verständnis der Tat gefordert. Nur so kann man in alle Richtungen abwägen, sagen die einen. So weiß man gar nicht, was erlaubt ist, die anderen.

Der Chefredakteur der Oldenburger Nordwest-Zeitung Rolf Seelheim gehört zu den schärfsten Kritikern von Ziffer 12.1. Er sagt: "Was soll denn das sein, ein 'begründbarer Sachbezug'? Wann ist der Bezug begründbar und wann nicht?" Als Praktiker könne er mit der Formulierung nichts anfangen. Die Regelung müsse klarer gefasst werden, sagt er. So wie sie jetzt sei, führe sie dazu, dass Redaktionen die Herkunft im Zweifel lieber verschweigen würden, als eine Rüge zu kassieren. Die hat zwar für einen Verlag keine gravierenden Konsequenzen: Die Veröffentlichung der Rügen ist sogar freiwillig, daher auch der Spruch mit dem "zahnlosen Tiger". Auf den Imageschaden würden die meisten Redaktionen aber wohl gerne verzichten.

"Der Kodex gibt uns genau vor, was wir brauchen"

Hartmut Augustin, Chefredakteur der Mitteldeutschen Zeitung, will am Kodex, wie er ist, festhalten. "Ich sehe keinen Grund, etwas zu ändern. Der Kodex gibt uns genau vor, was wir brauchen." Es gehe eher darum, diesen Spielraum auch auszunutzen, jeden Einzelfall genau zu prüfen. "Ist die Herkunft für den Fall wichtig? Dann muss man das auch schreiben."

Augustin stört etwas anderes: dass die Nationalität eines Verdächtigen oft schon von der Polizei zurückgehalten wird. "Das ist nicht deren Aufgabe", sagt er. Dass nach den Vorfällen in Köln erst spät berichtet wurde, habe "an der Desinformation der Kölner Polizei" gelegen, sagt auch Frank Überall, der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalistenverbandes. Auch er plädiert dafür, den Passus beizubehalten.

Tatsächlich orientieren sich viele Polizeidienststellen, etwa in Nordrhein-Westfalen oder in Niedersachsen, in ihrer Öffentlichkeitsarbeit am Pressekodex, obwohl der sich gar nicht an die Beamten richtet. In Berlin heißt es sogar, man wende den Kodex in allen Mitteilungen, die auch der Öffentlichkeit zugänglich sind, "analog" an. Dass heißt, dass in vielen Fällen die Presse überhaupt nicht die Möglichkeit hat, zu entscheiden, ob sie über die Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe berichtet oder nicht. Auch die bayerische Polizei orientiert sich am Kodex. Wenn es konkrete Nachfragen zur Herkunft gebe, würden die Informationen aber nicht zurückgehalten.

Ähnlich hält es die Deutsche Presse-Agentur. In heiklen Fällen wird die Nationalität nicht in der Agenturmeldung selbst, sondern im Anhang genannt, dort also, wo zum Beispiel auch die Telefonnummer des zuständigen dpa-Autors steht. So kann jede Redaktion selbst entscheiden, ob sie die Herkunft nennen möchte oder nicht. Chefredakteur Sven Gösmann sagt: "Sonst könnten uns die Kunden vorwerfen, dass wir ihnen etwas verschweigen."

Eine Bevormundung des Lesers?

Kai Gniffke, Chef von ARD-aktuell, sieht die Medien in einem Spannungsverhältnis zwischen der Sorge, Ressentiments zu schüren, und jener, Glaubwürdigkeit einzubüßen: "Was nützt uns regelkonformer Journalismus, wenn uns niemand mehr glaubt?" Schwierig werde es, wenn die Polizei im Netz mehr veröffentlicht, als die Medien berichten würden. "Wir sind eben nicht mehr die alleinigen Gatekeeper, die darüber befinden, was die Leute erfahren. Damit müssen wir umgehen", sagt er.

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Was bei der Kritik am Kodex auch immer mitschwingt ist, dass Ziffer 12 den Leser bevormunde, als sei der nicht fähig, den Einzelfall von der ethnischen Gruppe zu unterscheiden. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Nennung der Nationalität und Vorurteilen?

Florian Arendt forscht an der Ludwig-Maximilians-Universität in München über Rezeption und Wirkung von Stereotypen in den Medien. "Die Frage ist einfach zu beantworten", sagt er: "Ja. Mit Ausrufezeichen." Das hätten Studien im In- und Ausland bewiesen. In einer Untersuchung sei etwa zwei Gruppen dieselbe Nachricht vorgelegt worden, einmal ohne die Nationalität des ausländischen Verdächtigen zu nennen, einmal mit dieser Angabe. Auf die anschließende Frage, wie hoch der Anteil ausländischer Mitbürger an der Gesamtkriminalität sei, hätte die zweite Gruppe im Schnitt höhere Anteile geschätzt als die erste.

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Jeder Einzelfall muss sauber abgewägt werden

Bei einer Chefredakteursrunde, zu der die dpa kürzlich geladen hatte und bei der Ziffer 12 Thema war, machte Gniffke einen Vorschlag. Seine Idee: Den Passus um einen weiteren Satz zu verlängern, ähnlich formuliert wie der, der schon da steht "Zugleich ist zu berücksichtigen, dass die Nicht-Erwähnung Vorurteile gegenüber der Unvoreingenommenheit der Medien schüren könnte." Das Spannungsverhältnis wäre so im Kodex verankert, die Anforderungen an eine Rüge etwas höher: "Dann hätten vielleicht manche ein besseres Gewissen, die sich entscheiden, die Nationalität zu nennen", so Gniffke.

Was sich aber auch durch diesen Passus nicht ändern würde: Die Pflicht, in jedem Einzelfall sauber abzuwägen.

© SZ vom 09.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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