Am Neujahrstag um 8.57 Uhr war die Welt in Köln noch in Ordnung. Da zog die Kölner Polizei per Pressemitteilung eine Bilanz der Silvesternacht, die Überschrift: "Ausgelassene Stimmung, Feiern weitgehend friedlich". Gut, es gab 80 Körperverletzungen, und 73-mal waren Feiernde zu laut. Und da war noch die Sache am Bahnhofsvorplatz: "Um eine Massenpanik durch Zünden von pyrotechnischer Munition bei den circa 1000 Feiernden zu verhindern, begannen die Beamten kurzfristig die Platzfläche zu räumen", hieß es weiter. Doch kein Grund zur Sorge: "Trotz der ungeplanten Feierpause gestaltete sich die Einsatzlage entspannt - auch weil die Polizei sich an neuralgischen Orten gut aufgestellt und präsent zeigte."
Eine Woche und 121 Strafanzeigen später ist nichts mehr in Ordnung rund um den Kölner Dom. Seit bekannt wurde, dass in der Silvesternacht Gruppen alkoholisierter Männer, nach Berichten von Polizisten und Augenzeugen wohl arabischer oder nordafrikanischer Herkunft, in und am Hauptbahnhof Dutzende Frauen brutal sexuell attackiert haben, ist #koelnhbf der meistgeklickte Hashtag im Kurznachrichtendienst Twitter. Die Übergriffe des Kölner Mobs bestimmen Fernsehnachrichten und Schlagzeilen deutschlandweit. Allerdings erst seit Montagabend, vier Tage nach dem Horrorsilvester.
Wie aber konnte es dazu kommen, dass die Attacken, die nun ganz Deutschland empören, tagelang nahezu unbeachtet blieben? Wo doch Internet und soziale Medien in Echtzeit jedes umfallende Fahrrad in der tiefsten Provinz melden? Vor allem am rechten Rand ist der Schuldige schnell benannt: "Lügenpresse lässt nordafrikanischen Sex-Mob links liegen", schreit es aus dem einschlägigen Kopp-Verlag. Der Vorwurf, die Medien hätten versagt, kursiert aber nicht nur unter Rechtspopulisten. Wie also wurde was wann öffentlich bekannt?
Die Terrorwarnung lenkte den Blick der Medien auf München
Am Neujahrstag waren die Übergriffe von Köln kein Thema, jedenfalls nicht in den sozialen Medien. Man twitterte heftig zu #Feuerwerk, #Frohesneues, #Böller und vor allem zu #München. Die dortige Terrorwarnung der Polizei, garniert mit neujahrsnächtlicher Pressekonferenz von Landesinnenminister und Polizeipräsident, lenkte den Blick, auch den der Medien, auf die bayerische Landeshauptstadt. Die Kölner Zeitungen allerdings veröffentlichten in ihren Lokalteilen bereits am Neujahrsabend Berichte über sexuelle Belästigungen. Express, Kölner Stadt-Anzeiger und am ausführlichsten die Kölnische Rundschau zitierten Opfer, die in der Nacht von Männergruppen beschimpft, bedroht, beraubt und massiv begrapscht wurden. Die Frauen erzählten auch davon, dass das auch anderen passiert sei. Die Polizei bestätigte den Zeitungen die Vorfälle, nannte aber weder Details noch Zahlen.
Erst am späten Nachmittag des 2. Januars meldete sich die Polizei wieder, diesmal mit der Nachricht, sie habe eine eigene Ermittlungsgruppe zu den Vorfällen gegründet. Fallzahlen nannte sie in der Pressemitteilung nicht, sie redete über "unterschiedliche Vorfälle". Die Lokalzeitungen schrieben allerdings an diesem Samstag, dass sich "mehr als 30 Frauen" gemeldet hätten, der Kölner Stadt-Anzeiger wusste zu berichten, dass die Ermittler von mehr als 40 Tätern ausgingen. Es solle sich dabei um junge Männer handeln, die schon seit Monaten durch Taschen- und Trickdiebstähle sowie Raubüberfälle in Ausgehvierteln polizeibekannt seien. Zum ersten Mal wurde hier von "Männern nordafrikanischen Aussehens" geschrieben.
Übergriffe in Kölner Silvesternacht:Grauen in neuer Dimension
War absehbar, was in der Silvesternacht passierte? Die Kölner sind ratlos. Beobachtungen rund um den Hauptbahnhof.
Am Abend dieses Tages lief auch zum ersten Mal eine Meldung der Nachrichtenagentur dpa über die Ticker, die auf 22 Zeilen die Pressemeldung der Polizei wiedergab, unter der sehr niedrigen Prioritätsstufe vier. Die Meldung fand sich eine halbe Stunde später auch auf der Homepage der Süddeutschen Zeitung wieder. Am 3. Januar, einem Sonntag, an dem wie an den Vortagen dieses langen Neujahrswochenendes in Redaktionen nur personalreduzierte Feiertagsschichten arbeiteten, meldete die Polizei die Festnahme von fünf Männern, die an diesem Morgen Frauen bedrängt hätten. Es werde geprüft, ob sie auch für "eine Reihe ähnlicher Übergriffe in der Silvesternacht" verantwortlich seien. Das war dpa 21 Zeilen wert, und mehr war in überregionalen Medien nicht zu lesen. Dagegen ließ der Kölner Express an diesem Abend ein Opfer ausführlich zu Wort kommen und erfuhr von Ermittlern, dass die Polizei inzwischen von bis zu hundert Tätern und mehr als 35 angegriffenen Frauen ausgehe.
Die große Aufmerksamkeit kam am Montagnachmittag
Davon, dass die sozialen Netzwerke "glühten", wie später vor allem in rechten Internet-Foren behauptet wurde, gibt es jedoch keine Belege. Einzelne Zeugen stellten Berichte in die Kölner Facebook-Gruppe Nett-Werk, wo sonst hauptsächlich Gebrauchtgegenstände ausgetauscht werden. In den Hitlisten des Twitter-Auswerters Talkwalker kam das Thema Köln bis zum Montagmittag nicht vor. Diskussionen in islamfeindlichen Netzwerken beschränkten sich darauf, die Informationen der Kölner Zeitungen abzuschreiben.
Die große Aufmerksamkeit kam erst am Montagnachmittag - nach der Pressekonferenz von Oberbürgermeisterin Henriette Reker und Polizeipräsident Wolfgang Albers. Erst sie enthüllten das ganze Ausmaß der Silvester-Übergriffe. Von diesem Abend an berichteten die Medien bundesweit davon - auch die Süddeutsche Zeitung erstmals mit einem Korrespondentenbericht aus Köln. Manches Medium tat es zunächst nur zögerlich. Das ZDF meldete in den "Heute"-Nachrichten von 19 Uhr am Montag noch nichts von den Vorfällen - "ein Versäumnis", wie Chefredakteur Elmar Theveßen tags darauf auf der Facebook-Seite der Sendung schrieb. Noch am Montagabend, vor allem aber am nächsten Tag reagierten Politiker aller Parteien. Bei der ARD zog am Dienstag Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) gegen die Arbeit der Kölner Polizei vom Leder. Das Thema hatte die Bundespolitik erreicht.
Die sozialen Netzwerke hatten unterdessen ein Ziel ihrer Empörung gefunden: die Kölner Oberbürgermeisterin und deren Empfehlung, Frauen sollten Männer eine Armlänge auf Abstand halten. Auf Twitter war der Hashtag #einearmlaenge zeitweise ebenso populär wie #koelnhbf. Die Facebook-Seite Nett-Werk dagegen, auf der sich die ersten Zeugen gemeldet hatten, wurde abgeschaltet. Er sei erschüttert über viele nun gepostete Aussagen, erklärte deren Betreiber Phil Daub. Die Seite sei "ein Kriegsschauplatz verbaler Gewalt, gegenseitiger Schuldzuweisungen, Aufrufen zur Lynchjustiz, Beleidigungen, Pöbel, Hetze und Rassismus" geworden.