"I May Destroy You" auf Sky:Wie ein K.-o.-Schlag

Lesezeit: 4 Min.

In der Serie "I May Destroy You" einer der wichtigsten Schauplätze: das Gesicht von Michaela Coel als Bella. (Foto: BBC/HBO/imago)

Die sensationelle Serie "I May Destroy You" geht in ihrer Mischung aus Drastik und Komik so weit wie bislang kaum eine andere. Michaela Coel verarbeitet als Autorin, Produzentin und Hauptdarstellerin ihre eigene Missbrauchserfahrung.

Von Friederike Zoe Grasshoff

Deadline. Arabella starrt in ein eher leeres Text-Dokument, raucht einen Joint, kopiert einen Tweet, nur noch ein paar Stunden, nur noch eine Nacht. Sie googelt: "Wie man schnell schreibt" und schreibt nichts, geht dann doch aus, nur ganz kurz - in die Ego Death Bar. Wenn's schon so losgeht ...

... muss ja gleich der Moment im Leben kommen, da alles bricht. Am nächsten Morgen sitzt sie wieder in der Literaturagentur in Soho, diesmal tippt und tippt sie wie ein Bot, wusch macht der Laptop, abgeschickt. Wenn das keine Ego-rettende Maßnahme ist. Später am Tag pocht ein Bild in ihrem Kopf: eine Toilettenkabine, ein über sie gebeugter Mann, ein Mann, der ... sie vergewaltigt?! Tinnitus-Akustik, Arabella sieht verwirrt aus und sagt: "Huh."

Huh. Das ist der Ausgangspunkt von I May Destroy You, dieser von der Kritik bejubelten HBO-BBC-Serie, die eigentlich ihre Serie ist: Michaela Coel. Coel spielt Arabella, hat das Drehbuch geschrieben, die 33-jährige Britin führte in einigen der zwölf Folgen Regie und ist Produzentin. Aber stopp: Kann man bei folgendem Szenario überhaupt von einem "Ausgangspunkt" sprechen? Arabella Essiedu, kurz Bella, überaus talentierte, Partydrogen konsumierende, in einen italienischen Dealer verknallte, aktuell rosahaarige Autorin Anfang 30, die es auf Twitter zu einigem Ruhm gebracht und auf dieser Basis ihr erstes Buch "Chroniken eines satten Millennials" rausgebracht hat, lebt schön prekär in einer WG in London, der Familie entfremdet, den Freunden zugewandt - und diese Bella begreift erst mal nicht, dass da etwas bricht in ihrer Welt, in ihr.

In sechs Stunden wird der Realismus sexuellen Missbrauchs mikroskopisch erkundet

Da ist das Blut auf Stirn und Shirt, da ist der Mann in ihrem Kopf. Dass sie mit K.-o.-Tropfen betäubt wurde und sich deswegen an nichts erinnern kann, weiß sie noch nicht. Und ja, um auf die Frage zurückzukommen: Dieses erzählerische Chaos ist ein Ausgangspunkt, für eine ziemlich sensationelle Serie, halb detektivisches Porträt, halb zugeballertes Generationenporträt, mit kaum etwas vergleichbar, was es schon gibt. I May Destroy You ist so radikal, so komisch, dass es jede Form des Serien-Eskapismus konterkariert, verwüstet. Zum einen knallt es hier permanent, im Inneren der Heldin, musikalisch, im Diskurs über Rassismus, ständig werden Handy-Nachrichten eingeblendet, und - viel wichtiger - weiß man nie, was passiert ist, was wahr ist.

Da sie einen Blackout hat, bleibt Bella nichts anderes, als nach der Wahrheit zu suchen, sie scannt Uber-Rechnungen auf Hinweise, fragt ihre Freunde, was los war in dieser Nacht. Auf der Polizeiwache sagt sie, dass "Erinnerung" nicht der richtige Ausdruck dafür sei, was sie schildert, besser: "der Mann in meinem Kopf".

I May Destroy You zeigt keine klare, herkömmliche Täter-Opfer-Konstellation - dafür aber viel sexuelle Gewalt. Als Bellas Literaturagenten ihr in der Hoffnung auf bessere Ergebnisse einen Autor mit Cambridge-Abschluss zur Seite stellen, wird sie wieder missbraucht, beim Sex zieht der Autor heimlich das Kondom aus, eine Straftat, wie Bella später erfährt. Ihr promiskuitiver Freund Kwame (in der Dating-App heißt er "Fun Now 97") wird kurz nach dem einvernehmlichen Sex von einem Gespielen vergewaltigt. Diese Parallelismen zu Bellas initialem Trauma kann man schematisch finden - oder realistisch.

In sechs Sendestunden werden der Realismus sexuellen Missbrauchs und seine Folgen derart mikroskopisch erkundet, dass es einen kaum wundert: Es ist Michaela Coels eigene Geschichte. 2018 machte Coel öffentlich, dass sie kurz vor der Abgabe der zweiten Staffel ihrer Serie Chewing Gum betäubt und sexuell missbraucht wurde. Vielleicht hat Coel deswegen laut Vulture 191 Entwürfe für das Drehbuch verfasst und einen Eine-Million-Dollar-Deal mit Netflix ausgeschlagen, da sie die Rechte an den Streaminganbieter hätte abtreten müssen. Weil das hier tatsächlich ihre autofiktive Geschichte ist.

Tatsächlich sind die drei schwarzen Hauptfiguren, Bella, ihre beste Freundin Terry (Weruche Opia) und Kwame (Paapa Essiedu) ständig mit der Frage zugange, was das eigentlich ist: ein Täter, ein Opfer. Und tatsächlich wird bei aller Reflexion über Grenzen nie infrage gestellt, dass Bella Opfer geworden ist. Man muss ja nur in ihr Gesicht gucken, um zu wissen, was los ist, dort spielt die eigentliche Handlung; mal ist es angsterfüllt, mal gelassen, mal wütend, dann distanziert, amüsiert. Wie in einem psychedelisch-dokumentarischen Bewusstseinsstrom sieht man, wie Bella auf dem Klo kifft, zur Social-Media-Aktivistin für den Kampf gegen Missbrauch wird und irgendwann, als Halloween-Teufel verkleidet, bei ihrer Therapeutin sitzt. Die rät ihr dazu, Bilder zu malen, Instagram zu löschen, self-care und so. Ziemlich herrlich: Bella malt einen sehr bunten Vogel, Yoga funktioniert mäßig, und statt Zigaretten liebt sie jetzt einen Vaporizer.

Nach neun Monaten schließt die Polizei den Fall, ihre Vergewaltigung ist nun ein cold case. Von außen wird Bella also keine Antworten erhalten, von innen aber; je länger die Serie geht, desto genauer schaut sich Bella ihr Trauma an, studiert und seziert es. Irgendwann traut sie sich auch, unter ihr chaotisches Bett zu schauen, dort liegt das blutige Shirt aus jener Nacht, und einiges anderes Verdrängtes. Den kryptischen Titel I May Destroy You kann man auf viele Arten lesen - ich könnte dich zerstören, ich darf dich zerstören. Bella darf nicht, Bella kann nicht zerstört werden.

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