Als dritter großer Makel erweist sich zudem inzwischen das, was lange als große Stärke des ESC gehandelt wurde. Die Riesenbühne, die alles an lichttechnischem Schnickschnack bietet, was die Effektwelt zu bieten hat, entpuppt sich bei immer mehr Beiträgen als eine Art Showhölle, in der es pausenlos blitzt, prasselt und wirbelt. Dazu stürzt ständig die Kamera einem Adler gleich von der Hallendecke hinab oder fliegt den Zuschauer schwindelig. Schon nach der Hälfte der Songs keimt da der starke Wille, mal nach draußen zu gehen und wenigstens einen Teil der Bilder wieder zu erbrechen. Es stellt sich halt rasch ein Völlegefühl ein bei dieser Komplettüberfütterung, diesem optischen "Super Size Me". Der ESC droht damit, langsam aber sicher an seinem eigenen Fortschritt zu ersticken.
Von der Idee, ein Liederwettbewerb zu sein, hat er sich ohnehin schon lange entfernt. Von Jahr zu Jahr schon stand der dürre Gehalt der Songs in immer krasserem Verhältnis zur optischen Opulenz. Inzwischen scheint nun die Scheidung durch zu sein. Man hat sich offenbar endgültig verabschiedet von einstigen musikalischen Ansprüchen.
Vielleicht braucht Deutschland eine ESC-Pause
Möglicherweise ist damit dann auch das erneute Scheitern des deutschen Beitrags zu erklären. Wie schon Ann Sophie in Wien landete auch Jamie-Lee, die lange nicht alle Möglichkeiten der Effekttechnik nutzte und sich vorrangig auf ihr Lied "Ghost" konzentrierte, in Stockholm auf dem letzten Platz. Gerade mal einen Jurypunkt hatte sie aus Georgien bekommen. Auch die Zuschauer zeigten sich ähnlich ungnädig. Aus 41 Ländern konnte die junge Sängerin aus Hannover gerade mal zehn Punkte holen. Zum Vergleich: Die Ukraine bekam 534 Punkte.
Für die Diskrepanz gibt es zwei Erklärungen. Entweder hat man beim zuständigen NDR etwas falsch gemacht, was allerdings dazu führen müsste, dass irgendjemand mal Verantwortung für das fortlaufende Debakel übernehmen müsste, dass man mal etwas am Verfahren ändern müsste. Davon ist nicht auszugehen. Man hat beim NDR halt immer Recht.
Die zweite Erklärung ist von nationaler Tragweite. Wenn nämlich die beim NDR tatsächlich nichts falsch gemacht haben sollten, dann bleibt nur der Schluss, dass Deutschland in Sachen Show in Europa sehr allein dasteht, dass alle etwas anderes mögen als die Menschen hierzulande. Sollte das so sein, bliebe nur die Möglichkeit, mal ein paar Jahre niemanden zum ESC zu schicken. Man könnte sich da viel Schmerz ersparen.