Süddeutsche Zeitung

Eurovision Song Contest in Stockholm:Was für ein Dilettantenstadl

Von der Idee, ein Liederwettbewerb zu sein, hat sich der Eurovision Song Contest längst verabschiedet. Deutschland sollte sich eine Auszeit von dieser halbgaren Träller-Aufführung nehmen.

TV-Kritik von Hans Hoff

Von all den vielen Fehlern, die den Organisatoren des Eurovision Song Contest (ESC) in diesem Jahr unterlaufen sind, hieß der größte Justin Timberlake. Als der amerikanische Superstar am Samstagabend auf die Bühne kam, um die Abstimmungspause zu überbrücken, war mit einem Schlag all das, was in den 140 Minuten vorher die Bühne in Stockholm dominiert hatte, entlarvt als netter Versuch jodelnder Möchtegerns, als halbgare Träller-Aufführung im paneuropäischen Dilettantenstadl.

Gewinnen konnte Justin Timberlake als Gaststar leider nicht, das übernahm dann die Sängerin Jamala, die für die Ukraine den von modernen Elektrobeats getragenen Song "1944" präsentierte, der sich mit der Verschleppung der Krimtataren im Jahre 1944 beschäftigt. Offiziell ist in dem Beitrag keine politische Botschaft enthalten. Das hat die ausrichtende EBU im Vorfeld genau geprüft, denn politische Statements sind beim ESC tabu. Aber natürlich weiß ein jeder, der Jamalas Auftritt mitbekommen hat, dass hinter den formal nicht zu beanstandenden Worten des Textes mehr steckt, dass man ihn problemlos auch auf die aktuelle Situation in Jamalas Heimat münzen kann.

Musikalisch ging der Sieg für die Ukraine auch halbwegs in Ordnung. Immerhin machte Jamala als Einäugige unter lauter Blinden eine ganz passable Figur. Sie schmiss sich mit Inbrunst in ihren Song und kostete dessen bombastischen Charakter voll aus.

Kurz vor dem Ende dreht sich noch einmal alles

Lange hatte es vorher so ausgesehen, als würde statt ihrer ausgerechnet Australien das Rennen machen. Der Beitrag des ESC-begeisterten Landes, das mit einer Sondergenehmigung schon zum zweiten Mal am Wettbewerb teilnehmen durfte, lag bis kurz vor Schluss der Auszählung ganz vorne und rutschte erst in den letzten Minuten der knapp vierstündigen Show auf Rang zwei ab. Den dritten Platz belegte am Ende der als klarer Favorit ins Rennen gegangene russische Beitrag. Deutschland wurde wieder mal Letzter.

Dass sich kurz vor dem Ende noch einmal alles drehte, war dem neuen Abstimmungsverfahren geschuldet, das mehr Spannung in die Show bringen sollte. Bei früheren Shows war oft schon lange vor dem Ende der Punktevergabe klar gewesen, wer Sieger werden würde. Um das zu verhindern, wurden in diesem Jahr die Stimmen der Fachjurys und des Publikums getrennt bekannt gegeben.

Das hatte aber zur Folge, dass nach den Schaltungen in die 42 abstimmungsberechtigten Länder, aus denen man nur die Jurywertungen erfuhr, noch gar nichts klar war. In einer Art Hauruckverfahren packten dann die Moderatoren die kulminierten Ergebnisse der Zuschauerabstimmungen auf die Juryzahlen drauf. Hört sich kompliziert an, ist es auch. Vor allem nimmt dieses Verfahren dem ESC genau den Zauber der klassischen "Twelve Points"-Verkündungen, die sich schließlich zu einem Ergebnis formen. Das wirkte in all den Jahren zuvor wenigstens, als wäre es halbwegs transparent. Nun aber kommen die Zuschauerzahlen in einer irgendwie rätselhaften wirkenden Hauruckart am Ende obendrauf, was zwar formal stimmig sein und für einen kurzen Moment die Spannung steigern mag, letztlich aber eher undurchschaubar wirkt und die die früher gewohnte Chance auf stetige Steigerung raubt.

Als dritter großer Makel erweist sich zudem inzwischen das, was lange als große Stärke des ESC gehandelt wurde. Die Riesenbühne, die alles an lichttechnischem Schnickschnack bietet, was die Effektwelt zu bieten hat, entpuppt sich bei immer mehr Beiträgen als eine Art Showhölle, in der es pausenlos blitzt, prasselt und wirbelt. Dazu stürzt ständig die Kamera einem Adler gleich von der Hallendecke hinab oder fliegt den Zuschauer schwindelig. Schon nach der Hälfte der Songs keimt da der starke Wille, mal nach draußen zu gehen und wenigstens einen Teil der Bilder wieder zu erbrechen. Es stellt sich halt rasch ein Völlegefühl ein bei dieser Komplettüberfütterung, diesem optischen "Super Size Me". Der ESC droht damit, langsam aber sicher an seinem eigenen Fortschritt zu ersticken.

Von der Idee, ein Liederwettbewerb zu sein, hat er sich ohnehin schon lange entfernt. Von Jahr zu Jahr schon stand der dürre Gehalt der Songs in immer krasserem Verhältnis zur optischen Opulenz. Inzwischen scheint nun die Scheidung durch zu sein. Man hat sich offenbar endgültig verabschiedet von einstigen musikalischen Ansprüchen.

Vielleicht braucht Deutschland eine ESC-Pause

Möglicherweise ist damit dann auch das erneute Scheitern des deutschen Beitrags zu erklären. Wie schon Ann Sophie in Wien landete auch Jamie-Lee, die lange nicht alle Möglichkeiten der Effekttechnik nutzte und sich vorrangig auf ihr Lied "Ghost" konzentrierte, in Stockholm auf dem letzten Platz. Gerade mal einen Jurypunkt hatte sie aus Georgien bekommen. Auch die Zuschauer zeigten sich ähnlich ungnädig. Aus 41 Ländern konnte die junge Sängerin aus Hannover gerade mal zehn Punkte holen. Zum Vergleich: Die Ukraine bekam 534 Punkte.

Für die Diskrepanz gibt es zwei Erklärungen. Entweder hat man beim zuständigen NDR etwas falsch gemacht, was allerdings dazu führen müsste, dass irgendjemand mal Verantwortung für das fortlaufende Debakel übernehmen müsste, dass man mal etwas am Verfahren ändern müsste. Davon ist nicht auszugehen. Man hat beim NDR halt immer Recht.

Die zweite Erklärung ist von nationaler Tragweite. Wenn nämlich die beim NDR tatsächlich nichts falsch gemacht haben sollten, dann bleibt nur der Schluss, dass Deutschland in Sachen Show in Europa sehr allein dasteht, dass alle etwas anderes mögen als die Menschen hierzulande. Sollte das so sein, bliebe nur die Möglichkeit, mal ein paar Jahre niemanden zum ESC zu schicken. Man könnte sich da viel Schmerz ersparen.

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