Lassen Sie uns für ein paar Momente das Wort "Großbritannien" in den Meldungen der vergangenen zwei Tage durch den Namen eines beliebigen autoritär regierten Staates dieser Welt ersetzen. Russland, sagen wir.
Ein russischer Journalist enthüllt also aus dem brasilianischen Exil heraus federführend einen Skandal, der die Welt aufrüttelt. In einer Überraschungsaktion wird sein Partner neun Stunden lang am Moskauer Flughafen festgesetzt - und mit Verweis auf Anti-Terror-Gesetze befragt, als wäre Journalismus Terrorismus. Geheimdienstagenten suchen die wichtigste, kritischste Tageszeitung des Landes heim, für die er arbeitet, und zwingen sie, das Material zum Skandal entweder herauszugeben oder zu zerstören. Die Zerstörung überwachen sie dann persönlich, im Keller des Redaktionsgebäudes.
Bedrohung der freien Presse
Nur Zurückhaltung gegenüber einem befreundeten Staat verhindert noch, dass das, was in Großbritannien den Schilderungen des Guardian zufolge gerade mit dieser Zeitung geschieht, als das gebrandmarkt wird, was es ist: eine Bedrohung der freien Presse. Journalisten sollen nach dem Willen der Mächtigen etwas im Dunkeln lassen, was nach westlichem Verständnis von Journalismus durchaus ans Licht gehört. "You've had your fun", zitiert Chefredakteur Alan Rusbridger einen Regierungsmann, "now we want the stuff back." Man wolle das Material zurück, denn die Zeitung habe ihren "Spaß gehabt".
Falsch. Die Zeitung hat einfach ihren Job gemacht.
In Zeiten wie diesen, in denen etablierte Redaktionen wie der Guardian von finanziellen Überlebensängsten geplagt werden, könnte es keinen schlagkräftigeren Beleg dafür geben als den aktuellen Skandal, wieso es Journalismus mit der Schlagkraft und der Integrität einer solchen Redaktion braucht.
Journalisten unter Druck
Die Dreistigkeit, mit der unliebsame Berichterstattung verhindert werden soll, erinnert Deutsche vielleicht vage an die Spiegel-Affäre, aber natürlich verbieten sich solche Vergleiche. Großbritannien hat im Gegensatz zur damals jungen Bundesrepublik eine lange Tradition von bissiger, kritischer Publizistik, die in der Welt ihresgleichen sucht.
Wenn in diesem Mutterland des angelsächsischen Journalismus der Staat nun Journalisten bedroht und Redaktionen zur Zerstörung von Recherchematerial anweist, steht das in einer Linie mit etwa dem Vorgehen der US-Regierung gegen Whistleblower wie Manning und Snowden. Natürlich kann man beide des Geheimnisverrats und schlimmerer Verbrechen bezichtigen und Strafverfahren anstrengen wie einst gegen Daniel Ellsberg. Aber wie kurz der Weg dahin ist, mit der gleichen Logik auch Journalisten unter Druck zu setzen, sieht man jetzt. Derlei haben sich die britische und die US-Regierung bei den Wikileaks-Enthüllungen noch nicht getraut.
Am Ende verspielen westliche Regierungen so den selbstzugemessenen Kredit der moralischen Überlegenheit. Im Übrigen auch bei größeren Teilen der eigenen Bevölkerung. In Krisen wie dieser beweist sich, wie wertvoll demokratische Werte wirklich genommen werden.
Ein Aspekt wird in der Aufregung des Snowden-Skandals weithin unterschätzt, auf den nun auch Chefredakteur Rusbridger hinweist. Eine internationale staatliche Maschinerie, die so perfekte Spähsoftware entwickelt, dass sie quasi jede digitale Regung ihrer Bürger überwachen kann oder zumindest will - wer weiß schon Genaues? -, diese Maschinerie kann auch jede digitale Regung von Journalisten überwachen. Damit ist kritischer Journalismus in der Substanz gefährdet, weil das Zeugnisverweigerungsrecht in der digitalen Kommunikation wertlos wird; also das Recht, die Quellen einer Enthüllung in der Anonymität zu belassen.
Informantenschutz wird schwieriger
Seit Jahren gibt es ausreichend Verdachtsmomente, dass Spione den Mailverkehr von Redaktionen mitlesen und eventuell versuchen oder es schaffen, tiefer in die Überwachung einzusteigen. Seit durch die Enthüllungen vor allem des Guardian immer klarer wird, welche technische Infrastruktur sich westliche Regierungen bauen, um eben in die Tiefe von Kommunikation einzudringen, gibt es für Journalisten im Zweifelsfall keine Sicherheit mehr, im Verborgenen agieren zu können, sobald sie sich eines Computers und des Internets bedienen.
Sich über das Tor-Netzwerk zu anonymisieren, wird empfohlen, aber die Wahrscheinlichkeit ist übergroß, dass Geheimdienste diese Technik infiltriert haben. Verschlüsselte Mails werden empfohlen; aber auch der Weg verschlüsselter Mails ist nachvollziehbar, und oft reicht ja schon die Wegbeschreibung, um zum Beispiel Whistleblower zu enttarnen. Wer verschlüsselt, markiert sich außerdem selbst als Ziel. Und wer kann wirklich garantieren, dass Verschlüsselungen in einigen Jahren nicht doch geknackt werden können - oder dass auf Rechner und Handys von Journalisten Trojaner eingespielt werden, um Verschlüsselungen zu knacken oder Schlimmeres anzurichten? Wer einen Virus wie Stuxnet programmieren kann, um iranische Atomanlagen zu lähmen, ist auch zu solch profaneren Dingen fähig, und letztlich ist damit die Frage, ob wir den Geheimdiensten vertrauen können, dass sie die Grundrechte von Journalisten schon wahren werden.
Briefkasten statt Mail-Postfach
Die vergangenen zwei Tage haben wieder mal Zweifel genährt. Wer heute als Reporter seinen potenziellen Informanten erklären will, wie sie sicher anonym bleiben können, muss sie bitten, Computer und Telefone für den Erstkontakt zu meiden und stattdessen Briefkästen zu benutzen oder persönlich vorbeizuschauen.
Immerhin, Journalisten können staatlichen Übergriffen heute kreativer ausweichen als früher. Die Zerstörung der Snowden-Festplatten ist deshalb unerheblich, weil der Guardian das Material anderswo gesichert hat. Im Zweifelsfall stellt man es heutzutage ins Internet, damit es unvernichtbar wird, und stellt in unserer schönen neuen Informationswelt radikale Transparenz über alle Vorgänge her. So wird die digitale Kommunikation zum Verbündeten der Aufklärer.
Der Guardian bearbeitet außerdem den Snowden-Skandal weitgehend aus - wie man nun vielleicht sagen muss - sicherer Distanz zu Großbritannien, aus den USA heraus und auch aus Brasilien, wo der Reporter mit dem kürzlich festgesetzten Partner lebt. Im Klartext: Der britische Guardian berichtet über einen solchen Skandal gerade kaum noch aus Großbritannien heraus, sondern lieber aus Übersee. Wie man nun weiß, ist das klüger so.
Das muss man erst mal sacken lassen.