Who knows where the time goes, hat Nina Simone gesungen, das war eigentlich ein Folksong aus den Sechzigerjahren - wer weiß schon, wo die Zeit bleibt. Der Durchschnittsmensch hat davon jedenfalls selten genug. Das Arbeitsministerium hat 2018 beispielsweise herausgefunden, dass der Deutsche, im Schnitt, 44 Minuten braucht, um zur Arbeit zu kommen und wieder zurück. Wer normalerweise also in zehn Minuten im Büro ist, kann sich ausrechnen, dass irgendwer da draußen seine gesparten 34 Minuten in der S-Bahn absitzen muss. Da bleibt sie, die ganze Zeit.
Diese 44 durchschnittlichen Anfahrtsminuten gehören zu jenen, die viele Menschen, die im Home-Office arbeiten, plötzlich übrig haben, und zusammen mit dem gestrichenen Restaurantbesuch, dem entfallenen Work-out im Fitnessstudio und dem abgesagten Gelfingernägelüberarbeitungstermin kann da ein Haufen Zeit zusammenkommen, den es totzuschlagen gilt, falls er einem nicht sowieso von denen gestohlen wird, mit denen man gemeinsam in Quarantäne einsitzt. So haben nun diverse Zeitschriften-Verlage ihr Archiv geöffnet, und auch die Fifa gestattet es Fußballfans auf Entzug, umsonst in vergangenen Weltmeisterschaften zu stöbern, bis die Pandemie endlich vorüber ist. Im Rahmen ihrer Kampagne #WorldCupAtHome sind mehr als dreißig Spiele aus früheren Weltmeisterschaften zugänglich. Die Uefa und der Bezahlsender Sky gehen noch weiter und versuchen, Normalität aus der Konserve herzustellen - statt Stöbern gibt es ein festes Programm.
Sky zeigt an den kommenden Samstagen die "hisTOOOrische Sky Konferenz", jeweils um 15 Uhr wird da so getan, als sei man gemeinschaftlich in eine Zeitschleife geraten, die einen an gewesene Samstagnachmittage katapultiert, als sei sonst gar nichts passiert: einen Bundesliga-Nachmittag aus der Vergangenheit, samt Zusammenfassung der Highlights ab 17.30 Uhr. Da könnte man dann längst auf den Stream der Uefa umgeschwenkt sein, auch dort sind täglich historische Spiele zu sehen, außer montags. Am 2. Mai wird das ein Spiel sein, dass 1996 im Wembley-Stadion stattfand: Europameisterschaft, Schottland gegen England, und vielleicht gibt es ja sogar Leute, die sich an Paul Gascoigne, von den Engländern liebevoll Gazza genannt, gar nicht erinnern können. Gazza Gold, könnte man sagen.
Die Zusammenfassungen der Spiele auf der Webseite sind ein bisschen gemein, denn manch einer kennt dieses Spiel nicht, weil er damals noch im Kindergarten war, andere könnten hier von ihrem Goldfischgedächtnis profitieren, das nicht von einer Seite des Aquariums zur anderen reicht. Ähnlich wie bei Krimis, die man lange nicht gesehen kann, fühlt sich die Auflösung dann an wie beim ersten Mal.
Die amerikanische Ausgabe des Modemagazins Vogue hat ihr Archiv geöffnet, und da kann ein jeder viel weiter zurückblättern, als die Erinnerung es hergäbe. Die Vogue erscheint nämlich schon seit 1892 in den USA, und so kann man herausfinden, dass zu Weihnachten 1919, ein Jahr nach Ende des Ersten Weltkriegs (und somit auch ein Jahr, nachdem die Spanische Grippe entschwunden war!) die Pariserin sich ihrer alten Pelzmäntel entledigte, um Platz für neue zu schaffen. Damals gab es nur wenige Fotografien im Blatt, der Titel und viele andere Abbildungen auf den Seiten waren noch gezeichnet. Aber die Vogue kann da beweisen, dass sie damals echte Avantgarde war. Die Pariserin kleidete sich nämlich 1919 offensichtlich ziemlich genau so, wie man es erst mit den Roaring Twenties verbindet, und unter den neuen Pelzmänteln war bereits jede Menge Bein sichtbar. Das Blättern ist leicht, und da gerät man dann an Bilder, die erstaunlich vertraut wirken.
Irving Penn fotografierte beispielsweise 1947, als er noch keine Legende war, die zwölf gefragtesten Models, die man später Supermodels genannt hätte. Das Lesen indes ist mühselig, obwohl es sehr interessant gewesen wäre, in derselben Ausgabe herauszufinden, wie sich das Leben von James Joyce in Dublin gestaltete. Das ist bei einem anderen Blatt ganz genauso, wo allerdings die Fotografien nicht preisverdächtig waren: Auch bei der guten alten Bravo stehen die virtuellen Archivpforten jetzt offen, um "Nostalgie in dunkle Zeiten" zu bringen. Aus jedem Jahr von 1956 bis 1994 gibt es je die Nummer eins kostenlos, aber wenn man wirklich lesen wollte, was die Gerüchteküche 1976 über die Bay City Rollers verbreitete, müsste man wirklich Adleraugen haben.
Allerdings lebt ja auch die Bravo von Bildern, und man kann da erstaunliche Entdeckungen machen. Grundsätzlich waren die meisten Popstars früher ziemlich greislich, das liegt hauptsächlich aber nicht nur an ihren eigenartigen Haaren, die gern hinten lang waren, oben auf dem Kopf aber zu Spikes aufgestellt. Erinnert sich jemand an Brian Connolly? (Er war der Sänger einer Band namens Sweet, die Älteren summen im Kopf sofort "Fox on the Run"). Sie waren auch allesamt so schön untrainiert. Ach, und was damals für Teenager als aufregend galt: Dr. Sommer, der fiktive Sexualberater, ist ja ohnehin legendär. Aber wer weiß schon noch, dass er damals gerne zwischen Winnetou-Fotos und Kontaktanzeigen unterkam?
Schon allein die Werbung vergangener Zeiten ist ein Quell der Freude. Stichwort: Trockenshampoo! Im Vergleich zur Vogue aus den Zwanzigerjahren wirkt das ungeheuer profan, denn da wurde nicht nur für Kleider geworben, sondern für spektakuläre Automobile, und es sind Marken dabei, die heute nur noch Spezialisten erkennen.
Ganz so uneigennützig ist das mit dem nostalgischen Licht in dunkler Zeit dann aber doch nicht. Eine Nummer pro Jahr steht nun online, ganze Jahrgänge aber sind kostenpflichtig - die Siebziger beispielsweise sind im Angebot für 2,90 Euro pro Jahrgang zu haben.
Die Erinnerung spielt einem da übrigens unter Umständen einen Streich: In alten Bravos ging es gar nicht nur um Dr. Sommers Sexratgeber, Foto-Love-Stories und Popstars. Gelegentlich wurden einem als Fernsehprogramm alte Western empfohlen, ein Grenzschutzbeamter erzählte aus seinem gefährlichen Alltag, oder es gab eine Reportage. Im Januar 1976 beispielweis ging es um den "Terror" durch junge Fußballfans - Randalierer bei den Spielen von Hertha BSC. Von wegen: Früher war alles besser.
Ganz Besessene können im Digitalzeitalter übrigens auf einen Trick zurückgreifen, an den damals nicht zu denken gewesen wäre: Man kann auch ganze Starschnitte im Download kaufen, oder die Einzelteile zum Zusammenkleben - was eine wesentliche Verbesserung ist im Vergleich zu alten Zeiten, als ein kurzer Urlaub fernab aller deutschen Zeitschriftenläden dazu führen konnte, dass für immer ein Loch im Oberschenkel von David Cassidy, Starschnitt Nummer 45, klaffen würde. Die Serie "Partridge Family" über eine Familien-Pop-Band, in der sogar die Mama mitmacht, muss damals eine große Sache gewesen sein, Cassidys Serien-Schwester Susan Dey kommt oft vor in den alten Bravos. Wer gerne wüsste, wie es für alle Beteiligten weiterging, als die Serie, deren Songs es tatsächlich in Charts schafften ("I think I love you" war auch in Deutschland die Nummer 1), 1974 eingestellt wurde, wird auf Youtube fündig. Da kann einem die Nostalgie allerdings schnell vergehen.
David Cassidy ist deswegen ein so gutes Beispiel, weil er an die Tücken der Nostalgie gemahnt. Seine Biografie ist insgesamt eine eher traurige Veranstaltung; er war ein Popstar wider Willen, er wollte eigentlich lieber ein echter Rocker werden, aber der Partridge-Familienruhm bannte ihn bis zu seinem Tod 2017 in eine Umlaufbahn, die er hasste. Gazza, der Fußballstar, lebt noch, und in England schafft er es bis heute in die Klatschspalten, im Allgemeinen als tragische Figur, verfolgt von Alkoholismus, Krankheit und Unglücksfällen. Mit der Zeit ist es ja so eine Sache, weil man gern vergisst, wie sie wirklich war. Wer in Archiven blättert, merkt schnell, dass die Vergangenheit so anders gar nicht war. Gestern ist das Ebenbild von heute, bloß mit schlechteren Frisuren.