Kolumne: Vor Gericht:Unter Papierbergen

Lesezeit: 2 min

In der Justiz geht die Digitalisierung besonders schleppend voran. (Foto: Lutz Wallroth/imago images/Shotshop)

Die Bürokratie der Justiz überfordert viele - zuletzt eine Richterin, die Akten im Keller versteckte, statt sie zu bearbeiten.

Von Verena Mayer

Kürzlich machte der Fall einer Amtsrichterin Schlagzeilen, die zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. Die Frau hatte vorgetäuscht, Akten bearbeitet zu haben, und sie zu Hause im Keller versteckt.

Wer einmal in einem deutschen Gerichtsgebäude war, weiß, von wie viel Papier man dort umgeben ist. Weil die Digitalisierung in der Justiz besonders schleppend läuft, türmen sich in den Büros und Geschäftsstellen Ordner, Mappen, Schriftsätze. Und weil auch an den Gerichten Personalmangel herrscht, kann man sich durchaus mal überfordert fühlen. Ich erinnere mich gut an den Fall einer Gerichtsvollzieherin. Sabine B., 44, arbeitete in Berlin, wo besonders viele Menschen arm und verschuldet sind. Bereits an ihrem ersten Arbeitstag bekam sie eine Tüte mit Akten in die Hand gedrückt, alles Fälle von Verschuldeten, die sie aufsuchen und deren Wertgegenstände sie pfänden sollte.

Man sah Sabine B. sofort an, dass sie zu sensibel für ihren Job war. Zusammengekauert saß sie da, immer wieder brach sie in Tränen aus. "Ich dachte, die Leute haben sowieso kein Geld, wieso soll ich ihnen dann noch was wegnehmen?", sagte sie. Dazu musste Sabine B. die Fälle ihrer kranken oder pensionierten Kolleginnen bearbeiten. Die Aktenberge wuchsen ihr buchstäblich über den Kopf. Erst mietete Sabine B. eine größere Wohnung, um Platz für das viele Papier zu haben. Dann wurde ihr alles zu viel, und sie begann, die Akten zu fälschen. Sodass es zumindest so aussah, als habe sie ihre Fälle abgearbeitet.

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Sie gab vor, die Schuldner zur Vermögensauskunft aufgefordert zu haben, was ihre Aufgabe als Gerichtsvollzieherin war. Weil es diese Aufforderung aber nur in den Akten gab und die Betroffenen gar nicht darauf reagieren konnten, musste Sabine B. den nächsten Schritt einleiten und einen Haftbefehl gegen die angeblich säumigen Schuldner beantragen. Die Haftbefehle fälschte sie ebenfalls. Einem Richter, der über die Haftbefehle zu entscheiden hatte, fiel das auf. Sabine B. kam selbst vor Gericht und wurde zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt.

Im Prozess gab es eine fast komische Szene. Da fragte die Richterin Sabine B., ob sie kein schlechtes Gewissen hatte, weil Leute ihretwegen fast ins Gefängnis gekommen wären. Sabine B. antwortete, dass die Verhaftungen wegen der Arbeitsbelastung ja auch an ihr hängen geblieben wären und sie diese dann aufgeschoben hätte, so wie alles andere auch. Aber es gab auch eine recht traurige Erkenntnis. Dass nicht nur Menschen in eine Zwangslage geraten können, die kein Geld haben. Sondern manchmal auch die, die es eintreiben müssen.

Auch die Amtsrichterin, die ihre Akten im Keller bunkerte, erzählte in ihrem Prozess von einer Zwangslage. Sie sei von den Akten so überfordert gewesen, dass sie irgendwann eine "totale Blockade" gehabt habe. Sie darf, nachdem der Bundesgerichtshof das Urteil aufgehoben hatte, immerhin auf eine mildere Strafe hoffen.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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