Dem Geheimnis auf der Spur:Radikaler Schnitt

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Der Meister spricht: Orson Welles am Set des Films "The Magnificent Ambersons". (Foto: imago images/Everett Collection)

Orson Welles' zweiter Film "The Magnificent Ambersons" war ein Meisterwerk. Bevor er ins Kino kam, wurde er vom Studio zerstörerisch gekürzt - gibt es noch irgendwo eine Originalfassung?

Von Fritz Göttler

Orson Welles hasste Karneval, in jeder Spielart, in jedem Land. Und dann wurde er im Februar 1942 nach Rio geschickt, um den berühmten Karneval der brasilianischen Hauptstadt zu filmen, für das Filmstudio RKO. Das geschah vor allem aber auf Drängen von Nelson Rockefeller, der den Film brauchte für sein "Good Neighbor Policy"-Projekt - Amerika war in den Krieg eingetreten, und man wollte dem wachsenden Einfluss der Achsenmächte in den südamerikanischen Staaten entgegenwirken. Welles fühlte sich patriotisch geschmeichelt, vielleicht auch ein wenig genötigt, es gab ein Budget von einer Million Dollar, aber kein Honorar für den Filmemacher. "It's All True" sollte der Film heißen, er kam nie zustande.

Welles hatte in den Dreißigern das Theater und den Rundfunk in den USA mit neuen ästhetischen Formen provoziert, 1941 dann mit seinem ersten Film "Citizen Kane" die Kritiker total verblüfft (das Publikum weniger), mit RKO einen Super-Deal geschlossen (inklusive des Rechts auf den Final Cut), nun filmte er also den Karneval in Rio - Bilder von dunkelhäutigen Menschen auf den Straßen in höchster Erregung, eher verstörend im puritanischen Amerika. Während seiner Mission wurde fernab in Hollywood sein zweiter Film, "The Magnificent Ambersons", den er vor dem Abflug nach Rio nicht hatte beenden können, geschlachtet. Einer der größten films maudits der Kinogeschichte, ein verlorener Film, nur rudimentär überliefert.

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Es war, nach einem erfolgreichen Roman von Booth Tarkington von 1918, die Geschichte der ehrwürdigen Familie Amberson im Mittleren Westen, eines Clans voller Grandezza, Pracht und Hochmut. Welles ließ ihren Palast im Studio aufbauen und flanierte in minutenlangen, scharf ausgeleuchteten Einstellungen mit seiner Kamera durch die Hallen und über die Treppen. An die Moderne sich anzupassen, mit neuen Industrien und neuem Geschäftsgeist, schaffen die Ambersons nicht. Von den neuen pferdelosen Kutschen, den Automobilen, reden sie mit Verachtung. Mit einer schaurigen Hartnäckigkeit sabotiert der Sohn des Hauses, der alle Nebenbuhler als ducks bezeichnet, die Liebesversuche seiner Mutter als nicht standesgemäß. Am Ende steht der Junge mittellos und ohne berufliche Aussichten da. Und die Stadt der Ambersons hat ihre Seele verloren.

Ein Film so märchenhaft wie ein Scherenschnitt. Ein Niedergang, ein Epochenwandel, schmerzlich und komisch zugleich, denn auch die Misere hat ihren Glanz. Welles beschwört in einem TV-Interview die entscheidende Szene, die vom Studio geschnitten wurde: Der Junge sitzt mit seiner Tante in einer kleinen Pension, im Hintergrund bewegt sich ein Fahrstuhl auf und ab, das Lied "Two Black Crows" erklingt auf einem Grammofon, das zwei Kartenspieler im Hintergrund laufen lassen.

Mit dem Krieg war auch die Hoffnung auf das Wunderkind Welles geschwunden. RKO schickte ihm eine Kopie seiner nicht fertigen Version, 131 Minuten lang, nach Rio, damit er dort den Film kürzen könnte. Und machte im März 1942 eine Preview der "Ambersons" - in einem Kinosaal voller Teenager, in einem d ouble feature mit einem Musikfilm mit Betty Hutton. Die Tragödie begann. Die Zuschauer lachten und liefen aus dem Kino, bewerteten den Film als zu gloomy - zu düster. Das Studio begann zu kürzen, immer mehr, nachdem Reaktionen in weiteren Previews nicht hatten besser werden wollen - man drehte neue Szenen und fügte ein glücklicheres Ende an. 88 Minuten war diese Version lang, es ist die Fassung, die vom Film erhalten ist. Der Komponist, der große Bernard Herrmann, verlangte erbost, seinen Namen zu streichen. Das nicht mehr gebrauchte Material wurde vernichtet, um Lagerkosten zu sparen.

"Sie zerstörten die Ambersons. Und das zerstörte mich."

Welles hatte sein Recht auf den Final Cut, die endgültige Kinofassung, schon länger verloren. Die ersten vier oder fünf Rollen seiner Version blieben intakt, dann fingen die Kürzungen und Nachdrehs an. Showmanship statt Genius stand auf dem Briefpapier des Studios, erinnert sich Welles sarkastisch. "Sie zerstörten die Ambersons. Und das zerstörte mich ..." Was für das Studio ganz normale Praxis war, man dachte eben nur an das Einspielergebnis, war eine Tragödie für Orson Welles; viele Jahre lang wurde er nicht mehr als Regisseur angeheuert. Viele seiner persönlichen Filme drehte er stückweise, in langen Zeiträumen und mit guten Kollegen und Freunden - ein fragmentarisches Werk.

Die Ambersons sind nicht restlos verschwunden, es gibt den Film in der Fassung von 88 Minuten, die immer noch faszinieren, bewegen, verstören. Was aber ist mit der 131-Minuten-Fassung, angeblich einer der größten Filme der Welt? Wo ist das nach Rio geschickte Material geblieben? Der Filmemacher Joshua Grossberg forscht seit den Neunzigern danach, ist auf dieser Suche bis in den brasilianischen Dschungel gefahren. Die Ergebnisse will er nächstes Jahr in seinem Film "The Lost Print: The Making of Orson Welles' The Magnificent Ambersons" präsentieren. Ein anderer Filmemacher, Brian Rose, hat mit Computeranimation eine "Restauration" versucht, belebt fehlende Szenen virtuell durch Kohlezeichnungen und lässt den Dialog nachsprechen.

Was die Tragödie noch ein wenig bitterer macht: Selbst die ramponierte 88-Minuten-Version tauchte 1972 und 1982 unter den Top Ten der berühmten Liste der Filmzeitschrift Sight & Sound auf, ein paar Plätze hinter "Citizen Kane". Man mag "Citizen Kane" bewundern, aber man muss die "Ambersons" lieben. "In den Ambersons", schrieb lakonisch François Truffaut, "wird in weniger als zweihundert Einstellungen eine Geschichte erzählt, die sich über fünfundzwanzig Jahre erstreckt (gegenüber 562 Einstellungen in 'Citizen Kane'), als wenn der zweite Film von einem anderen Regisseur gedreht worden wäre, der den ersten hasst und ihm eine Lektion in Bescheidenheit geben wollte."

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