Dem Geheimnis auf der Spur:Gefräßige Strudel

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Ein reißender Schlund im Meer und ein Fabeltier mit dem Oberkörper einer Frau - so stellte sich ein Künstler im 19. Jahrhundert die beiden Wesen aus der "Odysee" vor. (Foto: Heritage Images/Getty Images)

Auf seiner gefährlichen Reise entkam Odysseus den Ungeheuern Skylla und Charybdis nur knapp. Aber wo genau liegt heute die Stelle, an der diese Meeresmonster hausten?

Von Rudolf von Bitter

Die göttliche Kirke hatte gut reden: "Halte dich dicht an Skyllas Felsen und opfere ihr in der Götter Namen die Männer! Besser ist es doch, sechs zu verlieren als das ganze Schiff! Und danach müsst ihr, so schnell ihr könnt, davonrudern." Als Odysseus und seine Mannschaft den Schlund der Charybdis erreichten, schwieg er wohlweislich von der zweiten Gefahr und wies den Steuermann streng an, Kurs zu halten, statt hinzuschauen auf das Loch in der Mitte des reißenden Strudels, auf dessen Grund man nacktes, schwarzes Geröll sah.

"Bleiches Entsetzen ergriff uns. Wir starrten noch in Todesangst dort hinüber, da schnellten die grässlichen Hälse der Skylla mit ihren nackten Schädeln herab und griffen aus unserem Fahrzeug sechs meiner stärksten und mutigsten Männer." Das lässt Homer seinen Helden Odysseus berichten. Dass es sich hier um die Straße von Messina handelt, war lange Zeit unter Gelehrten Konsens. Die Afrikanische Platte reibt dort an der Eurasischen Platte und schiebt Sizilien jedes Jahrhundert ungefähr einen Meter nach Norden.

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Als Abkürzung auf dem Weg zwischen Nord und Süd besaß die Meerenge zwischen Sizilien und Kalabrien seit je einen besonderen Ruf. Für kleine Schiffe gefährlich, für große "nicht ohne", wie heute die Kapitäne der Fährschiffe warnen. Es haust da zwar kein missgestaltetes Ungeheuer mehr, das seine Greifarme nach hilflosen Seefahrern ausstreckt, aber die Strudel der Charybdis am Capo di Faro sind nicht zu verachten. Dort prallen die gegenläufigen Wassermassen des Tyrrhenischen und des Ionischen Meers aufeinander und bilden Strudel und unberechenbare Wellen.

Die zwölf Füße und sechs Hälse der Skylla könnten eine Anspielung auf Kraken sein

Den sichtbaren Beweis der seismischen Aktivität bot 1908 das Beben mit anschließendem Tsunami in Messina. Hier wurden sogar schon die gigantischen Überreste eines Kraken gefunden. "Seeungeheuer gibt es wirklich", bestätigte am 30. September 2005 der Tagesspiegel: "Nachdem schon riesige Fangarme von Tintenfischen geborgen worden waren, filmten neuerdings japanische Meeresforscher erstmals lebend einen 8 m langen Riesentintenfisch mit seinen 10 saugenden Fang-Tentakeln, deren Enden verdickt sind wie Köpfe. ... Die alten Berichte der Seefahrer über solche Seeungeheuer sind also wahr."

Der britische Historiker und Marineoffizier Ernle Bradford fuhr mit seiner Yacht auf den Spuren des Odysseus und fand Anhaltspunkte für die Korrektheit der homerischen Beschreibungen. Für Skylla stellte er fest: "Wenn die Tiefseeströmungen auf die Untiefen bei Messina stoßen, werden sie nach oben abgelenkt und schleppen dabei eine Menge Lebewesen aus der Tiefe mit sich empor ... Ich glaube deshalb, es ist nicht abwegig, in der scheußlichen Skylla eine Anspielung auf die außerordentlichen ,Seegräuel' zu sehen, die in diesen Gewässern vorkommen ... In den zwölf Füßen und sechs Hälsen der Skylla darf man wohl eine Anspielung auf Kraken und Tintenfische erkennen."

Dabei ist gar nicht sicher, ob Homer die Überlieferungen von Seefahrern nicht aufgenommen und erzählerisch geschickt kombiniert hat, ob also die Geschichte von Skylla und Charybdis überhaupt hier zu verorten ist. Manchmal heißt es sogar, Homer habe gar nicht den Horizont gehabt, um die Straße von Messina zu kennen. Die Historiker Armin und Hans-Helmut Wolf haben die Fahrstrecken des Odysseus anhand des Textes untersucht. Auf einer Website der University at Buffalo werden ihre Forschungen benutzt, um weitere mögliche Verortungen für Skylla und Charybdis in Betracht zu ziehen: Warum nicht der Bosporus oder Gibraltar, die Region um das Kap Malea auf dem Peloponnes? Auch Teneriffa und Irlands Westküste wären möglich. Warum könnte die Stelle nicht auch zwischen Korsika und Sardinien liegen, wo seither andere Schiffe unter den katabatischen Winden gesunken sind?

Liegt die Meeresenge in Wahrheit in Griechenland?

Den wirksamsten Zweifel an der etablierten Verortung der zwei Ungeheuer an der Straße von Messina hat der Historiker Heinz Warnecke ins Spiel gebracht. Er fand eine sehr plausible Stelle, nämlich in Griechenland an der Meerenge von Rio-Andirrio, die den Golf von Patras mit dem Golf von Korinth verbindet und seit dem Altertum als Meerenge von Rhion bezeichnet werde und die von hohen Gebirgen eingefasst sei. Der Dichter habe sich eine Verkehrsachse in West-Ost-Richtung vorgestellt "und nicht von Norden nach Süden, wie es bei der Meerenge von Messina der Fall ist". Auch die am Gipfel verharrende Wolke finde sich hier.

Das unsterbliche Unheil, als das Skylla mit ihren langen Hälsen geschildert wird, die unversehens zuschlagen, deutet Warnecke als Wasserhosen, deren rüsselartiger Wolkenschlauch Schaden anrichten kann. Also ein reales Phänomen, "das übrigens nur temporär auftritt: Als nämlich Odysseus einen Monat später die Meerenge passiert, war Skylla nicht präsent". Die für das Mittelmeer starken und unregelmäßigen Gezeitenphänomene seien ein geophysikalisches Faktum der Meerenge von Rhion. Und auch, dass Odysseus dann noch einmal, in der Gegenrichtung, hier vorbeikomme, bei veränderten Wetter- und Strömungsverhältnissen, stimme bestens überein mit dem Umstand, dass der Golf von Korinth eine Sackgasse sei, die Irrfahrt aber hier wohl nicht habe enden sollen. Das sind einleuchtende Deutungen, aber sie haben sich nicht durchsetzen können. Bisher ist im allgemeinen Verständnis nach wie vor die Straße von Messina der Ort geblieben, wo die Ungeheuer Skylla und Charybdis lauern.

Vielleicht hat Homer auch nur zusammengefügt, was er über die Jahre gehört hat, und mit einem Stück Seemannsgarn verbunden. So wie große Erzähler die Charaktereigenschaften unterschiedlicher Personen zum Charakter einzelner Romanfiguren verdichten, so könnte Homer räumlich voneinander entfernte Phänomene auf einen Platz konzentriert haben. Dann könnten sogar alle Deutungen stimmen. Dem Epos Homers tut's keinen Schaden.

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