Dem Geheimnis auf der Spur:Von Stahl zu Stein

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Sänger Drafi Deutscher (li.) und Christian Bruhn, der die Melodie des Schlagers schrieb, bei Aufnahmen in den Sechzigerjahren. (Foto: Lothar Heidtmann/dpa)

"Marmor, Stein und Eisen bricht" von Drafi Deutscher ist einer der bekanntesten deutschen Schlager. Aber von wem stammt die berühmte Zeile wirklich?

Von Lothar Müller

Mit "Jettchen Gebert" (1906) und der Fortsetzung "Henriette Jacoby" (1908), Romanen über eine jüdische Familie im Berlin der Biedermeierzeit, hatte Georg Hermann einen großen Erfolg erzielt. Sein neuer Roman "Kubinke" war als Porträt des wilhelminischen Berlin der unmittelbaren Gegenwart angelegt. Am 1. April 1908 beginnt die Handlung, 1910 erschien das Buch. Die Großstadt braucht darin kaum Zeit, um den Friseurgehilfen Emil Kubinke zur Strecke zu bringen. Populäre Lieder aus Operette, Revue und Vergnügungsparks erklingen auf der Tonspur des Romans, während der Held untergeht. Was singt Pauline, seine künftige Verlobte?

"Pauline (...) tanzte (...) links herum einen köstlichen Walzer nach den schönen Klängen des beliebten: 'Rosen, Tulpen, Nelken,/ Alle Balumen welken./ Marmor, Stahl und Eisen briecht -/ Aber unsre Lübe - niecht'."

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Wie wurden die beiden letzten Zeilen aus dem Kaiserreich zum Refrain des Schlagers "Marmor, Stein und Eisen bricht" von Drafi Deutscher, der im Oktober 1965 herauskam, einer der erfolgreichsten Hits der noch jungen Bundesrepublik? Wie ging dabei der Stahl verloren und wurde durch den Stein ersetzt?

Mit 19 kommt Drafi Deutscher ins Büro des Produzenten und singt "Dam-dàm, dam-dàm"

Bei den im Hohenzollerngarten gesungenen Versen handelt es sich um eine Collage, deren erste zwei Zeilen dem Repertoire der Albumblätter des 19. Jahrhunderts entstammen, eine Abbreviatur des beliebten Eintrags: "Rosen, Tulpen, Nelken, / Alle Blumen welken / aber nur die eine nicht / und die heißt Vergissmeinnicht". Die Blumenmetaphorik passt gut ins Biedermeier. Die Trias "Marmor, Stahl und Eisen" passt besser zum Deutschen Kaiserreich nach 1871. Der Weg Emil Kubinkes zur Musterung auf dem Tempelhofer Feld führt durch Eisen und Stahl, vorbei an Lokomotiven, Fabriken und Gleisanlagen, weg vom Marmor, dem Material des klassischen Schönen. "Alle Balumen welken" - Hermanns Zitattechnik trägt dem Umstand Rechnung, dass Schlager eher gehört als gelesen und vor allem mitgesungen werden. Sie werden auswendig gewusst und kursieren über Generationsgrenzen hinweg. Ihre Refrains sind das populäre Gegenüber der Klassikerzitate aus dem Bildungsschatz.

Im Wikipedia-Eintrag zu "Marmor, Stein und Eisen bricht" heißt es lapidar: "Die Melodie schrieb Christian Bruhn, der Text stammt von Günter Loose." In seiner Autobiografie "Marmor, Stein und Liebeskummer" (2005) widerspricht Bruhn und schildert eine Szene kollektiver Autorschaft: Drafi Deutscher, damals 19 Jahre alt, kommt in die Firma des Berliner Produzenten Peter Meisel, greift sich eine Gitarre, singt "làlala-lalà-làlala, dam-dàm, dam-dàm ..." und hört wieder auf. Bruhn, der auch anwesend ist, sagt, das fängt ja gut an, und fragt, wie das Lied weitergeht. "Det machst du", sagt Deutscher. Das "dam-dàm" erinnert Bruhn an den Schlager "Schnürlregen" von 1949, der mit "da-dim-da-dom" beginnt. So kommt Bruhn auf "Weine nicht, wenn der Regen fällt". Als die Suche nach dem Refrain beginnt, schlägt Peter Meisel vor, es solle etwas wie " Concrete and Clay" sein. Das war ein aktueller britischer Hit der Band Unit 4 + 2: "The sidewalks in the street / The concrete and the clay beneath my feet / Begins to crumble / But love will never die / Because we'll see the mountains tumble / Before we say goodbye".

In einer E-Mail erzählt der Komponist, wie der Refrain des Liedes wirklich entstand

Die Liebe siegt noch immer über die Vergänglichkeit, auch 1965. Und wieder sind Materialbegriffe im Spiel. Das scheint für Bruhn die assoziative Brücke zum Repertoire des frühen 20. Jahrhunderts gewesen zu sein: "Schließlich schlage ich den (offenbar nur mir) bekannten Albumblattvers Marmor, Stein und Eisen bricht (aber treue Liebe nicht) vor. Peter ist begeistert." Im Buch von 2005 identifiziert Bruhn die Quelle nicht. Im Herbst 2023, per E-Mail um nähere Auskunft gebeten, hat er sie, inzwischen fast 89 Jahre alt, sofort parat: "'Rosen, Tulpen, Nelken, / Alle Blumen welken. / Marmor, Stahl und Eisen bricht - / Aber treue Liebe nicht.' So lautet der Original-Text eines Operetten-Walzerliedes von Paul Lincke, Text Heinrich Bolten-Baeckers. Alle vier Zeilen sind traditionelles Volksgut, welches Bolten-Baeckers aufgegriffen hat."

Paul Lincke und Textdichter Heinrich Bolten-Baeckers brachten einst am Berliner Apollo-Theater zahlreiche Operetten heraus, etwa "Venus auf Erden" und "Frau Luna" (mit der "Berliner Luft"). Dank Bruhn lässt sich die Herkunft des Vierzeilers nun bestimmen: aus der Operette "Prinzeß Rosine" von Lincke/Bolten-Baeckers. Bruhn ersetzte die säuselnde Sentimentalität vieler deutscher Schlager durch ein von double-time-Passagen vorangetriebenes Crescendo der Vitalität, dem sich Drafi Deutscher gewachsen zeigte. In einem Interview hat Bruhn gesagt, der Schlager sei eigentlich ein "Rocksong". Das Tempo spielt bei der Fusion von Schlager und Beatmusik eine Schlüsselrolle. Auf die Frage, warum er Stahl durch Stein ersetzt hat, antwortet Bruhn: "Weil es sich besser singen lässt. Meine Fassung war natürlich Marmorstein in einem Wort."

Der Verweis auf die leichtere Singbarkeit ist wohl nicht das letzte Wort: Zwischen dem Walzer Paul Linckes von 1905 und dem Erfolg von "Marmor, Stein und Eisen bricht" lagen zwei Weltkriege und der Nationalsozialismus. Kaum ein anderer Materialbegriff wurde da nachhaltiger zeithistorisch aufgeladen als der Stahl. Das zeigen Buchtitel der Weimarer Republik seit Ernst Jüngers "In Stahlgewittern" (1920), Organisationen wie der "Stahlhelm", die Geschichte der Schwerindustrie und die politische Rhetorik bis hin zu Hitlers Rede beim Reichsparteitag in Nürnberg im September 1935: "So soll die Jugend ab sofort sein: flink wie die Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl." "Marmor, Stein und Eisen bricht" war 1965 über die bessere Singbarkeit hinaus gegenüber der Originalversion die geschmeidigere, neutralere, gegen zeithistorische Assoziationen verlässlicher abgedichtete Variante.

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