Kolumne: Vor Gericht:Sie schaut genau hin

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(Foto: Steffen Mackert)

Was denken Angeklagte? Wie geben sie sich? Aus dem Alltag der Gerichtszeichnerin Felicitas Loroch.

Von Verena Mayer

Es ist immer interessant zu sehen, an welchen Orten Kunst entsteht. Hier zum Beispiel, im Schwurgerichtssaal des Berliner Landgerichts. Es geht um organisierte Kriminalität, um Körperverletzung und Erpressung. Und doch sitzt in einer Ecke eine Künstlerin und zeichnet mit Bleistift und schwarzem Fineliner zarte Striche auf ein Blatt Papier.

An deutschen Gerichten sind Fotos, Film- und Tonaufnahmen während einer Verhandlung verboten. Man darf aber aufschreiben oder eben zeichnen, was man erlebt. Felicitas Loroch ist Gerichtszeichnerin. Sie blickt sich im Saal um, fixiert jemanden. Und dann skizziert sie mit schnellen Bewegungen Gesichter, Gesten, Roben.

Wie wird man das? Sie habe immer gerne Menschen gezeichnet, sagt Loroch. Erst in der U-Bahn, aber da waren ihr die Begegnungen zu flüchtig. Also ging sie zu Gericht, "da laufen einem die Leute nicht weg". Ihr erster Prozess war gleich einer der spektakulärsten, es ging um den Terroranschlag in der Westberliner Diskothek La Belle Ende der Achtzigerjahre. Heute arbeitet Loroch, 66, als freie Künstlerin, es gibt nicht mehr viele Zeitungen, die Gerichtszeichnungen drucken. Aber zu Prozessen geht sie immer noch. Weil sie hier Geschichten hört, die man sonst nicht hört, weil sie erfährt, was den Menschen ausmacht. Und sie all das in einer Zeichnung verdichten kann.

Auch Verbrecher, findet sie, verdienen, nicht karikiert zu werden

Loroch hat viel gesehen. Räuber, Ladendiebinnen, Berufskriminelle, Mütter, die ihren Kindern etwas angetan haben. Anfangs hat sie versucht, am Gesichtsausdruck abzulesen, ob jemand die Wahrheit sagt. Inzwischen will sie einfach herausarbeiten, wie jemand ist. Sie wolle jeden Angeklagten so menschlich wie möglich zeigen, sagt sie, auch ein Verbrecher verdiene es, nicht karikiert zu werden. Und manchmal fragt sie sich, ob sie den Menschen im Gericht vielleicht zu nahe trete. Eine Zeichnung bildet ja nicht nur jemanden ab, sondern auch das, was ein anderer in ihm zu erkennen glaubt.

Gerichtszeichnungen wirken auf den ersten Blick wie aus der Zeit gefallen. Es gibt sie ja nur, weil in Prozessen eine Art Bilderverbot herrscht, wie sonst vielleicht bei religiösen Zeremonien. Und doch haben sie in einer Zeit, in der ständig gefilmt und gestreamt wird, fast schon etwas Avantgardistisches. So wie die Skizzen aus dem Prozess gegen Ghislaine Maxwell, die 2021 in New York als Mittäterin des Sexualstraftäters Jeffrey Epstein vor Gericht stand. Sie haben sich nicht nur wegen ihrer grellen Farben eingeprägt und den ausdrucksstarken Gesichtern. Die Zeichnungen der Angeklagten, der Zeuginnen und der Zuschauer waren auch das Einzige, was die Öffentlichkeit von dem Prozess zu sehen bekam. Kameras waren nicht erlaubt. Die Wirklichkeit war nur durch Kunst erfahrbar.

Kolumne
:Vor Gericht

In dieser Serie schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. Alle Folgen finden Sie hier.

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