Dem Geheimnis auf der Spur:Der mörderische Arzt

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Etwa 200 Menschen soll Henry Howard Holmes Ende des 19. Jahrhunderts in Chicago getötet haben. (Foto: mauritius images / Alamy Stock P)

Er gilt als der Prototyp des grausamen Serienkillers, aber viele seiner angeblichen Taten waren erfunden

Von Florian Welle

Jeder kennt das geflügelte Wort "My home is my castle". Verbrechen, die in Häusern stattfinden, scheinen uns deshalb besonders zu faszinieren und zu erschrecken. Zahllose Horrorgeschichten beziehen ihre Spannung daraus, dass hinter der bürgerlichen Fassade das Grauen wohnt. Nicht selten lehnen sie sich dabei an wahren Begebenheiten an.

Ein berühmter Fall ist das sogenannte Murder Castle des Dr. Holmes in Chicago, das Eingang in die populäre Kultur gefunden hat - von Robert Blochs Roman "American Gothic" über die fünfte Staffel der Fernsehserie "American Horror Story" bis zu Wolfgang Hohlbeins Thriller "Mörderhotel oder Der ganz und gar unglaubliche Fall des Herman Webster Mudgett". Hohlbein zieht die Leser mit einem wohlkalkulierten Schockeffekt in die Geschichte hinein, indem er zu Beginn den Täter bei der Arbeit am Seziertisch zeigt: "Wenn man genau hinsah, dann war es kein Tisch, sondern ein gewaltiger Quader aus Holz, wie der ins Absurde vergrößerte Hackklotz eines Fleischers oder ein barbarischer Opferaltar."

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An die 200 Menschen habe Henry Howard Holmes in den Achtziger- und frühen Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts ermordet, hieß es lange. Der studierte Mediziner, der 1861 in Gilmanton, New Hampshire, als Herman Webster Mudgett geboren wurde und sich später umbenannte, wäre demnach einer der ersten und grausamsten Serienmörder Amerikas gewesen. Und das Gebäude, in dem er bis zu seiner Verhaftung 1894 die meisten seiner Taten ausführte, so etwas wie sein heimtückischer Komplize.

Im Keller warteten angeblich der Seziertisch oder das Säurebad auf die Opfer

Denn Holmes wurde nachgesagt, dass er es nach seiner Übersiedlung nach Chicago im Jahre 1886 nur errichten ließ, um dort seine abnormen Neigungen auszuleben. Das Haus im Bezirk Englewood, das oft als Hotel mit bis zu 100 Zimmern beschrieben wurde, verfügte neben Privat- und Büroräumen angeblich über blinde Gänge, die im Nichts endeten, schalldichte Zimmer, aus denen keine Schreie zu hören waren, fensterlose, in die keine Luft eindrang, und mit Eisenplatten ausgeschlagene, die sich aufheizen ließen.

Waren Holmesʼ Opfer, Männer, Kinder und vor allem alleinstehende Frauen, tot, konnte er sie über Falltüren und Eisenrutschen in den Keller schaffen, ohne dass es einem der anderen Gäste aufgefallen wäre. Dort warteten dann wahlweise der Seziertisch, das Säurebad oder ein Ofen zur Beseitigung aller Spuren. Ältere Berichte und Dokumentationen über den sadistischen Arzt mit dem gepflegten Schnauzer und den stechend blauen Augen tragen daher Titel wie "Das Schreckenshotel des Henry Howard Holmes" oder "Das Hotel des Todes". Mit dessen Errichtung sollen immer wieder andere Handwerker beauftragt worden sein, damit keiner eine Vorstellung von der Gesamtanlage erlangen konnte.

Doch stimmt das alles überhaupt, was man sich im Laufe der Zeit über Holmes und sein todbringendes "Castle" erzählte? Jüngere Untersuchungen, zum Beispiel von Adam Selzer, Autor des 2017 erschienenen Buches "H. H. Holmes: The True History of the White City Devil", wecken Zweifel. So wurde Holmes eine schwere Kindheit mit einem gewalttätigen Vater angedichtet und behauptet, er hätte schon als Kind Tiere gequält. Als er mit 25 Jahren nach Chicago kam, arbeitete er zunächst als Angestellter bei dem Drogisten-Ehepaar Holton. Nachdem der Mann gestorben war, verkaufte die Witwe ihr Geschäft an Holmes und verschwand danach spurlos. So will es eine der Legenden.

In Wahrheit überlebten die Holtons ihren ehemaligen Mitarbeiter um viele Jahre. Sie waren nicht die einzigen. In der Haft gestand Holmes 27 Morde und verkaufte seine Story an die Presse. Indes erfreuten sich viele der vermeintlichen Opfer bester Gesundheit. Zuletzt sollte einen auch ein genauer Blick auf das Gebäude stutzig machen. Keineswegs hätte die behauptete Anzahl an Zimmern darin Platz gehabt. Mehr noch, es war noch nicht einmal ein Hotel.

Reißerische Schlagzeilen waren damals an der Tagesordnung

In den beiden Stockwerken brachte Holmes vielmehr Geschäfte und Wohnungen unter. Erst 1892 plante er im Vorfeld der Weltausstellung mit ihrer prächtigen White City ein drittes Stockwerk, das wohl ein Hotel für die erwartete Gästeschar hätte werden sollen. "Es wurde jedoch nie fertiggestellt oder eingerichtet oder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht", erzählte Adam Selzer in einem Interview. Holmes, dem man den Ruf eines eloquenten Frauenhelden verpasste, hat daher seine Opfer mitnichten unter den vielen Reisenden gefunden, die 1893 zu Besuch in der Stadt weilten.

Die Gerüchte wurden vermutlich von der Boulevardpresse befeuert, wie Harold Schechter, ebenfalls Verfasser eines Buches über Holmes, berichtet: "Ich bin davon überzeugt, dass all die Geschichten über die Besucher der Weltausstellung, die in seinem ,Schloss' ermordet wurden, nur eine sensationslüsterne Erfindung der Yellow Press waren." Reißerische Schlagzeilen wie "Victims of a fiend", Opfer eines Teufels, waren damals an der Tagesordnung.

Auch wenn also vieles Erfindung ist, was man sich mitunter bis heute über H. H. Holmes erzählt, so war er trotz allem ein Mörder. Mit bis zu neun Taten wird er in Verbindung gebracht, wobei von einigen der mutmaßlichen Opfer, darunter den Geschwistern Minnie und Nannie Williams, nach ihrem Verschwinden 1893 keine Spur mehr gefunden wurde. Skrupel hatte Holmes jedenfalls keine, sein Motiv war stets Habgier. So schändete er Gräber und verschacherte die Toten an medizinische Fakultäten, heiratete, obwohl offiziell nie geschieden, mehrmals und betrog Versicherungen.

Ein solcher Betrug wurde ihm in Philadelphia zum Verhängnis. Er ermordete seinen Kompagnon Benjamin Pitezel und drei seiner Kinder, um sich dessen Lebensversicherung auszahlen zu lassen. Man kam ihm auf die Schliche und klagte ihn an. Allerdings nur des Mordes an Pitezel. Im Mai 1896 wurde Holmes gehängt.

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