Dem Geheimnis auf der Spur:Der verlorene Sohn

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Wer war der Mann, der sich als Roger Tichborne ausgab? Im April 1873 wurde der angeblich vermisste Sohn vor Gericht gestellt. (Foto: mauritius images / Alamy Stock P)

1854 verschwand Roger Tichborne, ein englischer Adeliger, auf See und wurde für tot erklärt. Zehn Jahre später kehrte er zurück. Doch war er es wirklich?

Von Carolin Werthmann

Er war pausbäckig, übergewichtig, sprach kein Französisch. Trotzdem glaubte die Mutter fest daran, dass dieser Mann ihr Sohn sein musste. Ihr Roger. Ihr Junge, der vor mehr als zehn Jahren verschwand, und von dem alle behauptet hatten, er sei tot. Ertrunken, wohl irgendwo im Karibischen Meer.

Es ist das Jahr 1866, und der Mann, der einer trauernden Mutter das Glück zurückschenkte, sollte sich ein paar Jahre später als Angeklagter in einem historischen Prozess vor Gericht verantworten müssen. Es geht um Betrug, Erbschleicherei, Identitätsdiebstahl. Doch die Frage, die bis heute im Raum steht: Stimmen die Vorwürfe auch?

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Der Fall handelt von Roger Charles Tichborne, geboren 1829 als ältester Sohn einer englischen Adelsfamilie aus der Grafschaft Hampshire. Tichborne wuchs in Frankreich auf, denn seine Mutter hasste die englische Prärie. Erst als Jugendlicher kam er nach England; sein Vater wollte, dass er dort das Stonyhurst College besuchte, eine der ältesten Jesuitenschulen der Welt, bis heute. Zu dieser Zeit sprach Roger perfekt Französisch, Englisch nur mit Akzent. Seine Freizeit verbrachte er bei seinem Onkel, seiner Tante und deren Tochter Katherine, auch dann, als er längst die Schule beendet und sich der Armee angeschlossen hatte. Er verliebte sich in Katherine. Und sie verliebte sich in ihn. Aber sie waren Cousin und Cousine - und die katholischen Tichbornes not amused. Die Familie schlug vor, Roger solle für eine Weile verreisen, sich ablenken. Sollte er zurückkehren und immer noch dieselben Gefühle für Katherine hegen wie bei seiner Abreise, so bekäme das Paar den Segen.

Die Mutter schaltete Vermisstenanzeigen, die bis nach Australien reichten

Roger stach also in See Richtung Südamerika. Es gibt Daguerreotypien von ihm, frühe Fotografien, die ihn zu jener Zeit als schlanken Mann mit Hut, Schnauzer und Fliege zeigen. Es ist das Jahr 1854. Roger schickte Briefe in die Heimat, an seine Mutter, berichtete von seinem Plan, mit dem Schiff "Bella" nach Jamaika zu fahren. Dann hörte niemand mehr von ihm. Nur noch vom Untergang eines Schiffes. Davon, dass die "Bella" nie in Jamaika ankam. Geschweige denn Roger.

Zu Hause erklärte man ihn für tot. Katherine, die Cousine, war inzwischen anderweitig verheiratet, wartete nicht mehr auf ihn. Nur seine Mutter blieb optimistisch. Sie schaltete Vermisstenanzeigen, die bis nach Australien reichten. Jahrelang. 1865 meldete sich schließlich ein pausbäckiger, übergewichtiger Mann aus Wagga Wagga, New South Wales, und behauptete, der verlorene Sohn zu sein. In Australien kannte man ihn unter dem Namen Tom Castro. Ein Metzger, der kein Wort Französisch sprach, aber einige andere Indizien aufwies, die die Tichborne-Familie zu Hause in England aufhorchen ließen. Er litt zum Beispiel unter derselben genitalen Fehlformation wie Roger Tichborne. Er rauchte eine Pfeife mit den Initialen R.C.T. Er beschrieb erstaunlich überzeugend seine Erlebnisse in Südamerika, exakt an den Orten, wo Roger sich aufgehalten hatte, bevor er verschwand. Zwei Augenzeugen in Australien, zufällig Bekannte der Familie Tichborne, bestätigten, dass er Roger sein musste. Diese Ähnlichkeit sei doch eindeutig.

Für die Mutter des angeblichen Roger Tichborne stand ohne Zweifel fest: Das ist ihr Sohn. Wollte sie manche Ungereimtheiten in seiner Geschichte bewusst ignorieren? (Foto: Hulton Archive/Getty Images)

So machte sich dieser Tom Castro also auf den Weg nach England, und als er der Mutter schließlich gegenüberstand, war für sie klar: Er ist es. Rückblickend werden einige Menschen schreiben, dass Lady Tichborne sich so sehr an den Glauben klammerte, dass sie alle Ungereimtheiten (der fehlende französische Akzent, das Übergewicht) bewusst ignorierte. Sie wollte ihren Sohn wieder haben. Oder besser: irgendeinen Sohn.

An dieser Stelle fingen die damaligen Medien an, sich für die Geschichte zu interessieren. Ein Drama vom Feinsten: ein Schiffbruch, eine verzweifelte Mutter, ein vielversprechendes Erbe und ein Anwärter aus dem australischen Outback, der enorm viel Fans aus der Arbeiterklasse für sich gewann. Nicht, weil sie von seiner Ehrlichkeit überzeugt waren, sondern weil sie feierten, dass ein Mann wie er es geschafft hatte, sich überhaupt in eine solche Lage zu manövrieren. Immerhin winkte eine lukrative Zukunft für ihn, sollte seine Identität nicht weiter angezweifelt werden.

Wäre bloß seine stärkste Befürworterin nicht 1868 verstorben: die Mutter. Nun ging der Rest der Familie Tichborne gegen den Anwärter vor. Zog vors Gericht. Setzte ein ganzes Rechercheteam darauf an, die Vergangenheit dieses Mannes aufzudecken. Allmählich zeichnete sich ein Bild ab, das von nun an als die Wahrheit galt: Tom Castro aus Wagga Wagga heißt eigentlich Arthur Orton, der lediglich behauptet, Roger Tichborne zu sein.

Nach seinem Tod stand der Name Tichborne auf seinem Sarg

Bedeutet: Der Mann aus Australien war weder Tichborne noch Castro, sondern vielmehr ein Metzgerssohn aus England (immerhin das stimmte), der über einige Umwege in Australien gelandet war, zu dieser Zeit kaum mehr als eine britische Strafkolonie für Verbrecher. Wegen Meineids wurde Arthur Orton vom Gericht zu 14 Jahren Haft verurteilt. Er starb als mittelloser Mann im Jahr 1898.

Seltsamerweise wurde Orton nach seinem Tod offiziell als "Sir Roger Charles Tichborne" anerkannt, auf seinem Sarg prangte sogar eine Namensplakette. Ein Zugeständnis, falls sie alle falsch lagen und Arthur Orton doch kein Betrüger war? Vielleicht aber auch ein Bekenntnis? Wie ließ sich schon eine Identität in einem Zeitalter beweisen, in dem Pässe nicht selbstverständlich und DNA-Analysen noch Science Fiction waren.

1998 verfilmte der Regisseur David Yates den Fall. Das Werk ist allerdings nur schwer auf DVD zu ergattern. Und doch kann man das alles auch ausführlich nachlesen: in dem Buch von Douglas Woodruff aus dem Jahr 1957 zum Beispiel. Oder in "The Tichborne Claimant" von Rohan McWilliam, 2007. Denn selbst hundert Jahre danach bleibt ein Restfunken Skepsis, ob der Rückkehrer nicht doch der verlorene Sohn war.

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