Eigentlich war es gar nicht so geplant. Und fast wären die Sätze nie gefallen, die ihn weltberühmt machen und sich tief ins Gedächtnis der Menschheit eingraben sollten. Vier Minuten wollte Martin Luther King sprechen, als Letzter am Ende einer langen Liste von Rednern und Musikern. Bob Dylan trat auf, ebenso wie Joan Baez. Direkt vor Kings Rede sang Mahalia Jackson, die große Lady des Gospels.
Nun, als der erst 34 Jahre alte Baptistenprediger aus Atlanta auf den Stufen des tempelartigen Lincoln Memorial in Washington, D.C., ans Rednerpult tritt, sind die Menschen erschöpft. 250 000 sind gekommen, schwarze und weiße Amerikaner, teilweise von weit her angereist, aus Boston, Chicago und Atlanta. Zu beiden Seiten des Reflecting Pool bis hin zum Washington Monument verteilt sich die Menge. Weit mehr sind es, als die Bürgerrechtler erhofft hatten. Doch die Ersten wenden sich bereits zum Gehen, weil sie noch eine lange, lange Heimreise in engen Bussen und überfüllten Zügen vor sich haben. Der 28. August 1963 ist einer dieser typischen Hochsommertage in der US-Hauptstadt, heiß, schwül, schweißtreibend.
Der "Marsch auf Washington"
Schon mit seinen ersten Worten setzt King, zu dieser Zeit längst einer der bekanntesten schwarzen Amerikaner und einer der wichtigsten Anführer der Bürgerrechtsbewegung, einen hohen Ton. "Five score years ago", so hebt er an, vor fünfmal zwanzig Jahren - und die Viertelmillion vor ihm und überhaupt wohl jeder Amerikaner, der diese Wendung hört, weiß sofort, worauf und auf wen der Redner anspielt: auf den Mann, der steinern hinter King auf seinem marmornen Denkmalstuhl thront, auf Abraham Lincoln, den Sklavenbefreier und unbestritten größten unter Amerikas Präsidenten. 1863, genau hundert Jahre zuvor, hatte er die schwarzen Amerikaner offiziell vom Joch der Sklaverei in den Südstaaten befreit und ihnen die Bürgerrechte verliehen.
Mit nur drei Wörtern macht King klar, dass der "Marsch auf Washington", dessen Abschluss diese Kundgebung bildet, nicht einfach nur Teil irgendeiner politischen Kampagne ist, zu dem die Bürgerrechtsbewegung aufgerufen hat. Hier geht es ums Ganze, um das Herz Amerikas, um das, was den Kern des Landes für alle ausmacht - für Weiße, für Schwarze, für jede und jeden, die Teil irgendeiner Minderheit sind. Es geht um das große Versprechen dieses Landes, dass alle die gleichen Rechte haben und allen die Chance zukommen muss, ein erfülltes Leben führen zu können.
King beklagt, dass, wie er formuliert, "der Neger noch immer nicht frei ist", 100 Jahre nach Ende der Sklaverei. Dass die schwarzen Amerikaner "durch die Fesseln der Rassentrennung und die Ketten der Diskriminierung gelähmt" werden. Dass das Versprechen der Verfassung für sie noch immer nicht gelte.
"Erzähl ihnen von dem Traum, Martin!"
Und dass nun endlich die Zeit zum Handeln gekommen sei - eine Formulierung übrigens, die fast ein halbes Jahrhundert später der Mann in seinem Wahlkampf wieder aufgreifen wird, der erster schwarzer Präsident der Vereinigten Staaten werden sollte, Barack Obama.
Das alles also hat Martin Luther King schon gesagt. Bewegend, eindrucksvoll genug, als Mahalia Jackson, die schwarze Sängerin, einfach dazwischengeht. Sie sitzt hinter ihm auf dem Podium. "Erzähl ihnen von dem Traum, Martin!", ruft sie ihm zu. Und King, trotz der Temperaturen in dunklem Anzug und Krawatte und gestärktem weißen Hemd, schiebt tatsächlich sein Manuskript zur Seite und beginnt auf einmal zu predigen. Wie ein Prophet zu künden von einem verheißenen Land, das dieses Amerika werden könnte - das er aber, wie einst die großen Seher des Alten Testaments, vielleicht selbst niemals wird erleben dürfen. Es sind Worte, die die Nation bis ins Innerste erschüttern werden.
Aus heutiger Sicht ist trotz der aktuellen Rassismusdebatten schwer vorstellbar, wie die Rassentrennung das öffentliche Leben in den USA Anfang der 1960er beherrschte. Rechtlich nicht sanktioniert, doch allenthalben spürbar im Norden, institutionalisiert hingegen und offen praktiziert im Süden. Dort dürfen Schwarze an den Highways nicht in dieselben Motels wie die Weißen, sondern müssen in abgelegenen Absteigen unterkommen. In Bussen sitzen sie hinten, ja nicht einmal dieselben Toiletten dürfen sie aufsuchen. Die Universitäten sind Weißen vorbehalten; erst ein knappes Jahr zuvor konnte sich der erste Schwarze an der University of Mississippi einschreiben, unter Schutz von Soldaten, die auf Befehl der Bundesregierung in Oxford im Norden des Bundesstaates eingerückt sind. Mit Schikanen werden Schwarze daran gehindert, sich ins Wahlregister eintragen zu lassen. Wer dort nicht drinsteht, kann nicht abstimmen, weder über den Gemeinderat noch über den Präsidenten. Wenn Republikaner des Südens heute Wahlkreise neu zuschneiden wollen, damit Stimmen von Afroamerikanern weniger zählen, weckt das also böse Erinnerungen. Nicht einmal lieben dürfen sich Weiße und Schwarze 1963; Ehen zwischen ihnen sind zu dieser Zeit noch in 21 Bundesstaaten verboten.
Selbst die damals neue Machtelite in Washington steht der Diskriminierung im Süden eher ambivalent gegenüber. Für den jungen Präsidenten, den Demokraten John F. Kennedy, hatte das Problem keine allzu hohe Priorität. Zunächst. Ehe er 1947 als Kongressabgeordneter nach Washington kam, hatte der Millionärssohn aus Boston Schwarze nur als Domestiken kennengelernt, als Gärtner oder Köchin im Haushalt seines Vaters. Im Präsidentschaftswahlkampf 1960 versuchte er, so weit wie möglich das Thema zu vermeiden, auch wenn er inzwischen durchaus mit dem Anliegen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung sympathisiert.
Doch ist ihm das Thema politisch zu heikel. Im Kongress ist er als Präsident auf die Dixiecrats, die reaktionären weißen Demokraten aus dem Süden, angewiesen, will er seine Gesetzesvorhaben gegen die Republikaner durchbringen. Dabei hat er seinen Wahlsieg knapp drei Jahre zuvor auch den Stimmen der Schwarzen in den Großstädten des Nordens zu verdanken. Und deren Hoffnungen richten sich ganz auf ihn.
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JFK und sein Bruder Robert aber, den er zum Justizminister gemacht hat, lavieren von Anfang an. Sie signalisieren den Bürgerrechtlern immer wieder ihre Sympathie, aber die in Aussicht gestellten Gesetze gegen die Rassentrennung legt das Weiße Haus nicht vor. Nicht einmal, was der Präsident per Dekret verordnen könnte, zum Beispiel, mehr Schwarze in höhere Posten der Bundesverwaltung oder ins Weiße Haus zu berufen, ist er zunächst bereit zu tun - aus Angst vor Ärger mit den rassistischen Dixiecrats.
"Alibi-Integration ist kaum mehr als Alibi-Demokratie."
Martin Luther King durchschaut das rasch. 1963 wirft der damals erst 34 Jahre alte Geistliche dem Präsidenten "tokenism" vor, also nur symbolische Handlungen, die am Problem nichts ändern: "Wir dürfen uns nicht länger mit Alibi-Maßnahmen zufriedengeben, denn Alibi-Integration ist kaum mehr als Alibi-Demokratie." Das trifft die Kennedys und verärgert sie tief.
King entschließt sich gleichwohl, den Präsidenten im Frühjahr 1963 zum Schwur zu zwingen, ausgerechnet in Birmingham im tiefen Süden, dem Ort mit der schlimmsten Rassentrennung in den USA, wie er die Großstadt in Alabama beschreibt: "Das Ziel ist es, eine Situation zu erzeugen, in der sich die Krise so zuspitzt, dass Verhandlungen unausweichlich werden." Die Nation verfolgt bald atemlos in den Fernsehnachrichten, wie die Stadtbehörden bei friedlichen Protestkundgebungen der Schwarzen Hunde auf Kinder hetzen, Demonstranten mit Schlagstöcken niederknüppeln lassen und Menschen mit Hochdruckwasserstrahlen aus Feuerwehrschläuchen wie Müll fortgespült werden.
Die verstörenden Bilder gehen um die Welt. King wird bei friedlichen Protesten inhaftiert, kommt ins Stadtgefängnis. Seine Frau Coretta fürchtet um sein Leben. Ihre Angst vor einem Lynchmord ist in der aufgeheizten Atmosphäre nicht aus der Luft gegriffen. Die Kennedys sehen sich zum Handeln gezwungen.
Showdown in Birmingham
Der Präsident ruft Kings Frau an, verspricht, ihren Mann aus dem Gefängnis zu holen. Sein Bruder setzt Verhandlungen in Birmingham durch, die mit dem offiziellen Ende der Rassentrennung in der Stadt und dem Sieg der Bürgerrechtsbewegung enden. Nur Tage später, am 11. Juni 1963, kündigt der Präsident in einer Fernsehansprache an die Nation schließlich das lange versprochene Antidiskriminierungsgesetz an, den Civil Rights Act.
King ist entschlossen, jetzt nicht nachzulassen. Nur Tage nach seiner TV-Rede empfängt Kennedy die Spitze der Bürgerrechtsbewegung im Weißen Haus und drängt sie, angesichts seiner Ankündigung den für August angesetzten "Marsch auf Washington für Jobs und Freiheit", wie sie ihn offiziell nennen, wieder abzublasen. Der Zeitpunkt Ende August, kurz vor Rückkehr des Kongresses aus den Ferien, komme "ungelegen", der bis dahin geplante Ort der Abschlusskundgebung vor den Stufen des kuppelbewehrten Parlamentsgebäudes sei schlecht gewählt. "Wir wollen einen Erfolg im Kongress", sagt Kennedy, "nicht einfach nur eine große Show vor dem Kapitol." King ist ungerührt. "Ganz ehrlich", sagt er dem Präsidenten ins Gesicht, "ich war noch nie bei einer Aktion dabei, deren Zeitpunkt nicht unpassend zu sein schien."
Der geplante Termin für den Marsch bleibt, als Kompromiss aber verlegen die Bürgerrechtler ihn auf Drängen der Kennedys ans Lincoln Memorial. Und so wird aus einer politischen Großdemo, die vermutlich als eine provokative Kampfansage an die weißen Rassisten im Kongress wahrgenommen worden wäre, eine Massenkundgebung, die an das gute Gewissen des Landes rühren wird wie keine zuvor, ein Appell an die Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit der Amerikaner.
Auf den roten Hügeln von Georgia
Und es sind die in geradezu biblischer Sprache intonierten Worte Martin Luther Kings, die nicht nur in den USA, sondern weltweit die Menschen aufrütteln und die er, scheinbar spontan, nach dem Zuruf Mahalia Jacksons vor dem Lincoln Memorial findet (tatsächlich hatte er ähnliche Passagen schon bei früheren Auftritten benutzt; daran erinnert ihn Jackson). "I have a dream", beginnt King also, "ich habe einen Traum, dass sich diese Nation eines Tages erheben und der wahren Bedeutung ihres Glaubensbekenntnisses gerecht werden wird: Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen sind." Der erste Satz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776. Und weiter: "Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne ehemaliger Sklaven und die Söhne ehemaliger Sklavenbesitzer gemeinsam am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können."
Acht Mal wiederholt er diese Formel, "Ich habe einen Traum", so wuchtig, als würde er von der Kanzel seiner Gemeindekirche in Atlanta predigen. Einer dieser zutiefst berührenden Sätze dürfte bei vielen Familien in den Vereinigten Staaten besonders nachgehallt haben: "Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht nach der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden." Welche Mutter, welcher Vater will es nicht, dass ihren Kindern die Welt offensteht, sie sich voll entfalten können und nicht durch ihre Herkunft daran gehindert werden? Das Versprechen der Verfassung heruntergebrochen auf den Erfahrungshorizont des durchschnittlichen Amerikaners. Das wirkt nach.
Immer weiter steigert sich King in die Rolle des prophetischen Künders, bis er seine Rede mit einer Zeile eines alten Spirituals endet: "Endlich frei, endlich frei. Gott dem Allmächtigen sei Dank, wir sind endlich frei." Sechzehn Minuten hat er gesprochen.
Selbst der so abwartend-skeptische Präsident ist beeindruckt. Alle drei großen amerikanischen TV-Senderketten übertragen live. John F. Kennedy verfolgt die Rede wie Millionen Amerikaner vor dem Fernseher, nur einen guten Kilometer entfernt, im Weißen Haus. "Der Kerl ist wirklich gut", soll er danach gesagt haben. Der "Marsch auf Washington" hat damit eines seiner Ziele ohne Zweifel erreicht: Der Druck auf den zaudernden Präsidenten wächst, die angekündigten Antidiskriminierungsgesetze auch durch den Kongress zu bringen.
Doch wie zwiespältig die Kennedys den Bürgerrechtlern gegenüberstanden, zeigt der Umstand, dass sie 19 000 Soldaten um Washington zusammenziehen ließen, um notfalls Ausschreitungen zu unterbinden. In Gefängnissen rund um die Hauptstadt waren vorsorglich Gefängniszellen freigeräumt worden. Nichts davon ist nötig. Der Massenprotest bleibt friedlich.
Der Chef der Geheimdienstabteilung der Bundespolizei FBI, William Sullivan, notiert nach der Rede Kings allerdings: "Angesichts von Kings mitreißend demagogischer Rede müssen wir ihn jetzt als den gefährlichsten Neger für die Zukunft dieser Nation bezeichnen." Hinter allem steht die Vorstellung, dass die Forderungen der Bürgerrechtler ihnen von linken Extremisten eingeblasen werden und King lediglich deren Handlanger ist. Die Kennedys stoppen die Kommunistenjäger keineswegs. Im Gegenteil, Justizminister Robert Kennedy genehmigt dem FBI nun sogar, King zu Hause und auf Reisen ständig abzuhören. Und im Kongress bleiben die Antidiskriminierungsgesetze erst einmal in den Ausschüssen stecken.
Alles ändert der erschütternde Präsidentenmord nicht einmal ein Vierteljahr später am 22. November 1963 in Dallas. Die Nation unter Schock sieht das Ende der skandalösen Rassentrennung in den USA, das Martin Luther King auf den Stufen des Lincoln Memorial eingefordert hatte, die Vision eines neuen, gerechteren Amerikas fortan auch als Vermächtnis des jungen Präsidenten. Tatsächlich gelingt es Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson, den Widerstand der Dixiecrats zu brechen. Am 2. Juli 1964 unterzeichnet er den von Kennedy eingebrachten Civil Rights Act, ein Jahr später den Voting Rights Act, der allen Schwarzen auch im Süden das Wahlrecht garantieren soll. "Endlich", wie Martin Luther King an jenem heißen Augustnachmittag in Washington skandiert hatte, "endlich frei."
Das Nachrichtenmagazin Time ernennt Martin Luther King Anfang 1964 zum "Mann des Jahres", Monate später bekommt er den Friedensnobelpreis zugesprochen. King wird den Triumph nicht lange überleben. Am 4. April 1968 wird er von einem weißen Rassisten in Memphis erschossen.
Fast ein halbes Jahrhundert nach Kings großer Rede wird 2011 in Gegenwart Barack Obamas ein Denkmal enthüllt, in Sichtweite des Lincoln Memorial. Ein weißer Granitblock, aus dem die Gestalt des Bürgerrechtlers heraustritt - so wie er es in seiner Rede beschrieben hatte, dass eines Tages "aus dem Berg der Verzweiflung ein Stein der Hoffnung" gehauen werde. Die Hoffnung braucht Amerika noch immer, heute kaum weniger als damals.