Wettskandal in der Türkei:Loch in der Volksseele

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Angriff auf ein nationales Heiligtum: Der türkische Fußball wird von einem Wettskandal biblischen Ausmaßes erschüttert. Der Eklat ist auch ein Symptom des schwierigen Weges der türkischen Republik zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Wegen der Massenwirkung des Fußballs könnte seine Aufarbeitung lehrreich sein.

Thomas Steinfeld

Mitte August beginnen die Störche über den Bosporus zu ziehen. Die Ornithologen nennen diesen Weg die Ostroute. Sie wird von den meisten Störchen eingeschlagen, die östlich einer imaginären Linie lebten, die sich von den Niederländen bis an den Lech zieht. In großen Gruppen und lockeren Formationen ziehen die großen Vögel über Istanbul, oft in großer Höhe. Dann lassen sie sich sinken, stets darauf bedacht, nicht allzu weit über offene Gewässer zu fliegen.

Türkische Fußball-Fans mit einer Fahne, die das Portrait des Republikgründers Mustafa Atatürk zeigt: Der türkische Fußball wird von einem Wettskandal erschüttert, doch es hat einen Sinn, wenn die großen Flachbildschirme in den Teehäusern auf Heybeli und Büyük nun schwarz bleiben. (Foto: AFP)

Viele verbringen eine Nacht auf einer der Prinzeninseln, neun Hügeln im Marmarameer, vor der südlichen Einfahrt zum Bosporus gelegen. Die Einheimischen tragen dann Wasser und Fleisch zu den Tieren. Weil die Störche am nächsten Morgen weiter nach Südosten, in Richtung Mekka ziehen werden, nennen fromme Türken sie ,,Pilger''.

Die Ankunft der Störche ist ein melancholisches Ereignis. Sie kündet das Ende des Sommers an. In gewöhnlichen Jahren aber hat die Trauer ein Gegenüber, das mit ebenso freudiger Erregung erwartet, wie der Storch von einem Gefühl verlorenen Glücks und vergangener Freiheit empfangen wird: Die Herbstsaison der ,,Süper Lig'', der ersten Liga des türkischen Fußballs, beginnt.

Dann sammeln sich die Männer (und es sind nur diese) von Heybeli und Büyük bei Einbruch der Dämmerung - denn die Tage sind ja nun schon deutlich kürzer - in den Teehäusern am Wasser, die großen Flachbildschirme beginnen zu leuchten, und alle Melancholie ist für neunzig Minuten plus Nachspielzeit vergessen.

Nicht so in diesem Jahr: In Folge eines Bestechungsskandals, der, wenn die Vorwürfe stimmen, griechische, italienische oder deutsche Dimensionen bei weitem übertrifft, wurde der Beginn der Saison auf den neunten September verschoben. Von Fenerbahce Istanbul, dem erfolgreichsten Verein des Landes, zieht sich der Skandal die Liga abwärts. Um mindestens neunzehn Spiele soll es gehen, Dutzende von Funktionären und Spielern wurden in vier Wellen (die jüngste fand erst in der vergangenen Woche statt) verhaftet. Zumindest offiziell weiß nun keiner mehr, wie es mit dem großen türkischen Fußball überhaupt weitergehen soll.

Glaubens-, Hoffens-, Schmerz- und Glücksveranstaltung

Fenerbahce Istanbul ist, mit mehr als hundertfünfzigtausend Mitgliedern, einer der größten Sportvereine der Welt. Getragen wird der Club vom Fußball, auf ihn konzentriert sich die Leidenschaft und die Treue von Millionen Anhängern. Und es geht nicht nur um diesen Verein, sondern um alle Vereine, um die gesamte, die ganze Nation umspannende Glaubens-, Hoffens-, Schmerz- und Glücksveranstaltung, die der Fußball in der Türkei ist.

Es ist, als hätte jemand das größte Heiligtum der Nation geraubt, ein Loch in die Volksseele getrieben, mutwillig das freiwillige Lehnswesen zerstört, auf dem die Beliebtheit des Fußballs unter großen Teilen der Bevölkerung beruht. Und wenn Tayyip Erdogan, der Ministerpräsident, selbst ehemaliger Fußballer und bekennender Anhänger Fenerbahces, sich zum Skandal äußert, dann mit der grimmigen Entschlossenheit eines Mannes, der weiß, dass er mindestens das Fegefeuer zu durchschreiten hat: Wenn die Türkei je ein ziviles Land werden soll, so lautet seine Botschaft, dann gilt das jetzt zuerst für den Fußball.

Drei große politische Ereignisse gab es bislang in diesem Jahr in der Türkei: Das erste Ereignis war die Wiederwahl Tayyip Erdogans als Ministerpräsident zu Beginn des Jahres, zu der "säkular" gesonnene, liberale Wähler entscheidend beigetragen hatten.

Feld des Symbolischen

Das zweite war der plötzliche Rücktritt der Armeespitze im Juli, die, so die gängige Interpretation, im Machtkampf mit der Regierung aufgaben. Spricht man mit türkischen Intellektuellen, ergibt sich indessen ein anderes Bild: Nachdem in den vergangenen Jahren mehr als zweihundert aktive und pensionierte Offiziere unter der Anklage, Komplotts oder Verschwörungen geschmiedet zu haben, verhaftet worden waren, galt die Armeespitze in den radikalen Kreisen des türkischen Militärs als ein Verein von potentiellen Überläufern.

Wenn sie ihre Posten aufgab, dann nicht, weil Tayyip Erdogan sich gegen sie durchgesetzt hatte (das ist auch der Fall), sondern, um sich einen Rest militärischer Ehre zu bewahren. Ihr Rücktritt war ein symbolischer Akt, der von neuen politischen Verhältnissen eher kündet, als dass er eine unmittelbare Konsequenz daraus gewesen wäre.

Im Fußball ist das Feld des Symbolischen nun vollends beschritten. Wohl und Wehe der Nation hängt nicht davon, ob die eine Mannschaft siegt und die andere verliert, auch wenn das Ergebnis gekauft und die Anhänger betrogen worden sein sollten, auch wenn sich Millionen damit verdienen lassen. Was Rechtsstaatlichkeit indessen bedeutet, lässt sich der großen Wählerschaft am Fußball indessen wohl einleuchtender demonstrieren als an den geschlossenen Zirkeln des Militärs.

Insofern hat es einen Sinn, wenn die großen Flachbildschirme in den Teehäusern auf Heybeli und Büyük nun schwarz bleiben. Und die letzten Störche werden ja auch erst frühestens Ende August über die Ostroute gezogen kommen. Was man praktisch und symbolisch betrachten kann.

© SZ vom 16.08.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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