Berlinale-Wettbewerb:Was keiner sagen will

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Lars Eidinger und Nina Hoss in "Schwesterlein", leise Nöte bei Hong Sangsoo und Eliza Hittmans "Never Rarely Sometimes Always".

Von Susan Vahabzadeh

Die 70. Berlinale feiert Schauspieler ganz leise, sozusagen im Subtext, indem es ein paar große Talente immer wieder zu sehen gibt. Bei weitem nicht nur Lars Eidinger in verschiedenen Rollen. Der Argentinier Nahuel Pérez Biscayart aus "The Intruder" zu Beginn des Wettbewerbs ist auch mehrfach da, der Kanadier Théodore Pellerin spukte durch den Eröffnungsfilm "My Salinger Year" und taucht nun in Eliza Hittmans "Never Rarely Sometimes Always" wieder auf, und Elio Germano spielt in beiden italienischen Wettbewerbsbeiträgen mit.

Eidinger ist das Brüderlein in Stéphanie Chuats und Véronique Reymonds "Schwesterlein". Die beiden Schweizer Regisseurinnen stricken ihre Geschichte um Nina Hoss herum, die Lisa spielt, eine Theaterautorin, die nicht mehr schreiben kann, seit sie weiß, dass ihr Zwillingsbruder Sven Krebs hat. Sie fühlt sich als der für ihn zuständige Mensch - der Regisseur David, den er groß gemacht hat (Thomas Ostermeier), und die Mutter (Marthe Keller) sind es sicher nicht. Für Lisa aber, die verheiratet ist und zwei Kinder hat, ist Sven vom Hauptdarsteller ihrer Stücke zum Hauptdarsteller ihres Lebens geworden. Dass ihr Mann seinen Vertrag als Internatsleiter in der Schweiz verlängern will, dass David ein Theater zu leiten hat - das interessiert sie alles nicht. Sie muss tun, was sie kann, damit Sven noch etwas Halt im Leben hat. Mit ihren Kindern spielen kann, mit ihr zusammensein, daran glauben, dass er bald wieder auf der Bühne stehen wird.

Vorgezogener Trennungsschmerz: Nina Hoss und Lars Eidinger als Zwillingspaar in "Schwesterlein" von Stéphanie Chuat und und Véronique Reymond. (Foto: Verleih/Berlinale)

"Schwesterlein" ist ganz großartig gespielt, Eidinger ist rührend als leidende Seele - aber vor allem Nina Hoss kann mit einer kleinen Geste, einem kalten Blick alles sagen. Keiner will verstehen, dass für Lisa jetzt nichts anderes zählt, weil sie mit Sven auch einen Teil ihrer selbst verlieren wird - ganz präzise sind Stéphanie Chuat und Véronique Reymond in fast beiläufigen Beobachtungen, wie das ist, wenn der Tod schon im Raum steht, aber keiner seinen Namen sagen will.

Drei Frauenporträts stehen in der Mitte des Wettbewerbs nebeneinander, drei Figuren, die sich gerade neu erfinden müssen. "Schwesterlein", die 17-jährige Autumn, die abtreiben lassen will in Eliza Hittmans "Never Rarely Sometimes Always" und Hong Sangsoos "Domangchin yeoja /Die Frau, die rannte", dessen Heldin Ghamee durch Seoul streift. Bei letzterer braucht man eine Weile, um zu begreifen, dass auch sie an einem Scheideweg angekommen ist. Sie scheint fröhlich, als sie bei einer alten Freundin vor der Tür steht, die sie nicht gesehen hat, seit sie vor die Tore der Stadt gezogen ist; ihr Mann, sagt Ghamee, sei auf Geschäftsreise, erstmals seien sie getrennt in den fünf Jahren ihrer Ehe. Die alte Freundin lebt mit einer anderen Frau, es ist beschaulich hier draußen, und der neue Nachbar ist einigermaßen perplex, als er erklärt bekommt, die Katzen seien halt leider genauso wichtig wie seine Frau, die sich vor ihnen fürchtet, weswegen man nichts für ihn tun könne. Ghamee besucht als zweites eine Freundin in der Stadt, die mit mehreren Verehrern jongliert; und dann, als letztes, trifft sie auf jene alte Gefährtin, für die sie ein Mann verlassen hat, den sie wohl einmal geliebt hat. Würde sie hier nicht die Bemerkung fallen lassen, dass Leute, die sich wiederholen, nicht die Wahrheit sagen, würde man Ghamee fast glauben, dass da irgendwo im Off, wo wir als Zuschauer nicht hinsehen könnten, das perfekte Zuhause auf sie wartet. Aber genau das ist es, was sie jeder Freundin wortgleich immer wieder aufdrängt. Sie schaut sich diese anderen Lebensentwürfe an - zurückgezogen, frei, in einer Beziehung untergeordnet-, weil ihr eigener gescheitert ist.

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Hong Sangsoos Filme suchen den Kern ihrer Figuren im Alltäglichen, in unspektakulären Fußmärschen durch leere Straßen und einfachen Verrichtungen, und es ist spannend, ihm zuzusehen, wie er von Dingen erzählen kann, die man nicht sieht und nicht hört. Aber letztlich halten die leisen Nöte dieser Frau, die immer nur innerlich rennt, den Vergleich mit "Schwesterlein" und "Never Rarely Sometimes Always" nicht aus.

Man könnte sich ja schon mal fragen, warum es kaum Filme darüber gibt, wie der Druck auf Frauen, die eine Abtreibung brauchen, in den USA in den letzten Jahren immer größer wurde, nicht mal im amerikanischen Independent-Kino. Eliza Hittmans Film, der schon in Sundance gezeigt wurde, thematisiert aber auch nicht die drakonischen Gesetze in Georgia oder die Probleme, die Frauen haben, denen für eine Abtreibung das Geld fehlt.

Autumn (Sidney Flannigan) kommt ihr eigenes Leben öde vor, vielleicht schmerzhaft, aber sie kriegt das schon irgendwie hin; sie arbeitet nach der Schule im Supermarkt, und ihre Cousine Skylar (Talia Ryder) hält sowieso in allen Lebenslagen zu ihr. Autumns Freund hat sie verlassen, ihr Vater ist ein Ekel. Skylar kapiert schnell, warum Autumn sich dauernd übergeben muss, obwohl diese ihr nicht von dem Besuch bei der Frauenärztin erzählt hat, die sie unter Druck gesetzt und belogen hat, damit sie nicht abtreibt. Im Bus lernen die beiden einen Jungen kennen, gespielt von dem schon erwähnten Théodore Pellerin. Skylar wird ihn ein bisschen ausnutzen, so wie sie auch den schmierigen Typen im Supermarkt dafür zahlen lässt, dass er sie betatscht. Die entscheidende Szene aber findet im Krankenhaus in New York statt, wenn Hittman in einer langen Einstellung beobachtet, wie Autumn langsam zusammenbricht, während eine Betreuerin sie mit sanfter Stimme befragt: Hat sie schon mal jemand geschlagen, zum Geschlechtsverkehr gedrängt - niemals, selten, manchmal, immer? Auch hier geht es ums Ungesagte, und man würde Autumn wünschen, dass sie die Antworten hinausschreien könnte, in alle Welt. Ihre Qualen bleiben aber hinter einer bürgerlichen Fassade verborgen. Bei Lisa, dem "Schwesterlein", ist das Leugnen der offensichtlichen Wahrheit ein Ausdruck der Liebe - bei Autumn ist es wie ein Geschwür, dass im Verborgenen weiter eitern wird.

© SZ vom 26.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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