Filmfestspiele Venedig:Fragen der Macht

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"Und morgen die ganze Welt": Die Gehetztheit im Gesicht der Hauptdarstellerin Mala Emde zeigt die Intensität ihres inneren Konflikts. (Foto: Oliver Wolff)

Der deutsche Wettbewerbsbeitrag "Und morgen die ganze Welt" ist eine Antifa-Milieustudie voller Dringlichkeit - und korrespondiert mit zwei sehr politischen Filmen aus den USA und Mexiko.

Von Tobias Kniebe

Zum Ende hin wird es spannend, das Festival von Venedig nimmt Fahrt auf. Nach einem eher zähen Beginn, als der Wettbewerb zeitweise wie eine Art Corona-Notedition aussah, ohne wirklich überzeugende Filme und Filmemacher, ist das eine dringend erwartete Nachricht. Und wahrscheinlich nicht zufällig werden die Geschichten zugleich politischer, rücken näher heran an die großen Kämpfe der Gegenwart, an die Konfrontationen zwischen links und rechts, Arm und Reich, Schwarz und Weiß.

Auch das deutsche Kino spielt in diesem Endspurt eine Rolle. "Und morgen die ganze Welt" heißt der Film von Julia von Heinz, der am Donnerstagabend seine Galapremiere im Wettbewerb hatte. Für die Regisseurin aus Herrsching ist das ein ganz besonderer Moment, denn der Weg dorthin war schwer. In Interviews hat sie erzählt, wie lang sie diesen Stoff schon verfilmen wollte (der erste Entwurf stammt aus dem Jahr 2000) und wie stark die deutschen Fördergremien abblocken, wenn es in einem Drehbuch direkt politisch wird. Ihre Einladung nach Venedig wirkt nun wie eine Belohnung für einen langen Kampf - und Festivalchef Alberto Barbera hat auch schon zu Protokoll gegeben, dass er hier eine neue Generation am Werk sieht, die den politischen Impuls des Neuen deutschen Films aus den Sechzigerjahren weiterträgt (SZ vom 2. September).

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"Und morgen die ganze Welt" vermittelt schon in den ersten Bildern ein Gefühl der Dringlichkeit. Luisa ist eine junge Jurastudentin aus einer adligen Familie mit Geld, man sieht sie einmal mit einem Gewehr bei der Jagd mit ihren Verwandten und beim Ausweiden von Wild. Von Beginn an aber will sie weg, in ein von der Antifa besetztes Haus in Mannheim, will etwas für Flüchtlinge tun und gegen den Rechtsruck in ihrem Land. Dort macht man ihr schnell klar, dass Zaungäste und reiche Mädchen mit Schuldkomplex hier nicht gefragt sind. Sie wird sich in gemeinsamen Aktionen bewähren müssen.

Julia von Heinz legt bei dieser Initiation ein hohes Tempo vor. Vieles wird nur skizziert oder läuft im Hintergrund ab - zugleich aber spürt man die reale Erfahrung in all diesen Szenen, vom gemeinsamen Kickboxen im Gruppenraum über den Machismo des guttaussehenden Typen mit den besonders radikalen Sprüchen bis zum Vortrag der R-Gruppen über den "Feind" - das R steht für Recherche. Die Regisseurin war in ihrer Jugend selbst zehn Jahre lang in der Antifa, das hebt den Film auf Anhieb über die üblichen Versuche von Milieustudien hinaus.

Es geht darum, Erschrecken und Zweifel in den Zuschauern weiterbrennen zu lassen

Dann aber wird es schnell dramatisch, ein erbeutetes Handy liefert Einblicke in ein Neu- und Altnazi-Netzwerk, ein nächtlicher Beobachtungstrip führt zu einem geheimen Rechtsterror-Depot voller Sprengstoff. Die Verwicklung von Polizei und Verfassungsschutz deutet sich an, und die junge Protagonistin stellt fest, dass sie selbst nur noch einen Schritt von etwas entfernt ist, das sie für Jahre ins Gefängnis bringen kann. Muss sie dennoch illegal handeln, weil Teile des Staats sich blind stellen und dem Treiben der Rechten nur noch zusehen? Die Gehetztheit im Gesicht der Hauptdarstellerin Mala Emde zeigt die Intensität ihres inneren Konflikts.

Mehr soll hier nicht erzählt werden, zumal der Film schon Ende Oktober in die deutschen Kinos kommt. Eindeutige Antworten auf die Fragen, die sie aufwirft, will Julia von Heinz allerdings bewusst nicht liefern. Eher geht es ihr darum, Erschrecken und Zweifel in den Zuschauern weiterbrennen zu lassen. Ein Ansatz, den sie mit zwei weiteren Filmemachern teilt, die dieses Jahr in Venedig ebenfalls sehr politische Geschichten erzählen. Fast bilden ihre drei Filme eine Art Triptychon.

Viel stiller und kammerspielartiger, aber von den Themen her nicht weniger virulent, ist "One Night in Miami", das späte und doch gleich sehr überzeugende Regiedebüt der schwarzen Schauspielveteranin Regina King ("If Beale Street Could Talk"). Sie hat ein Theaterstück von Kemp Powers verfilmt, einem weiteren Afroamerikaner, dessen große Begabung weltweit langsam sichtbar wird - mit dem Pixar-Meister Pete Docter zusammen hat er auch den Animationsfilm "Soul" geschrieben und dabei Co-Regie geführt.

Die bis heute unausweichliche Frage an alle Afroamerikaner, die es geschafft haben

Die sehr spezifische Nacht in Miami, um die es geht, spielt am 25. Februar 1964, als der Boxer Cassius Clay, der damals noch nicht Muhammad Ali hieß, im Alter von 22 Jahren die Weltmeisterschaft im Schwergewicht gegen Sonny Liston gewann. Sein neuer spiritueller Mentor, der Bürgerrechtler Malcolm X, der ihn zum Islam bekehren wird, verspricht ihm eine Feier und hat noch zwei weitere prominente Freunde geladen - den Musiker Sam Cooke und den Footballspieler Jim Brown. Aus der Party wird dann aber nichts, stattdessen wird in einem eher bescheidenen Hotelzimmer wild diskutiert, da setzt dann die Imagination von Kemp Powers ein. Malcolm X nämlich will die anderen von der Notwendigkeit überzeugen, sich dem Kampf der Schwarzen in den USA zu stellen, der Tatsache, dass die Brüder in den Straßen sterben. Allein das macht den Film schon wieder aktuell, und dazu kommt die bis heute unausweichliche Frage an alle Afroamerikaner, die es geschafft haben: Haben wir echte Unabhängigkeit oder sind wir doch nur Clowns des weißen Mannes? Dürfen wir den Geschmack der Weißen mit Harmlosigkeit bedienen, um viel Geld zu machen, denn auch Geld bedeutet Macht? Oder müssen wir uns viel klarer politisch positionieren?

Die Argumente und Gegenargumente sind messerscharf, keine Schwachpunkte in den jeweiligen Lebensentwürfen werden ausgespart, oft geht es für die ein oder andere Figur so an den Kern der Dinge, dass es wehtut. Kingsley Ben-Adir, Aldis Hodge, Leslie Odom Jr. und Eli Goree sind noch keine großen Stars, dürften es aber bald werden, denn sie füllen ihre berühmten Rollen überzeugend aus. Und dann wird dieser reine Männerabend auch noch brillant von der Einfühlungsgabe einer Regisseurin geführt - die wenigen amerikanischen Beobachter, die es dieses Jahr nach Venedig geschafft haben, sprechen von Oscar-Buzz. Auch dieser Film behauptet nicht, alle politischen Antworten zu haben. Die Dringlichkeit seiner Argumente hat sich aber in den beinah sechzig Jahren seit jener Nacht in keiner Weise erledigt.

Dass es immer noch Unterdrücker und Unterdrückte gibt, ist dann in der dystopischen Fantasie einer nahenden Zukunft von Michel Franco aus Mexiko gar keine Frage mehr. "Nuevo orden/New Order" handelt von gewalttätigen Protesten auf den Straßen von Mexico City, während ein Clan von Reichen und Mächtigen gerade die Hochzeit eines jungen Paares feiern will. Das Auftauchen schwer bewaffneter Aufrührer an der Gartenmauer - so könnte der Aufstand der Entrechteten eines Tages beginnen. Es wird dann auch für die Reichen sehr schmerzhaft und blutig, bald folgt ein strenger militärisch-autoritärer Lockdown, in dem aber Teile der Truppen auch als kriminelle Banden Lösegeld eintreiben, etwa mit der jungen Braut, die sie gefangen halten.

Dieser Film schaut zwar in eine furchtbare Zukunft, sein Ausgangspunkt aber ist das Mexiko der Gegenwart mit seiner Korruption und Ungleichheit, der Gewalt der Kartelle und der Brutalität von Militär und Polizei, die oft genug selbst kriminell agieren. In der Programmierung von Venedig erscheint es fast so, als antworte Michel Franco auf die Fragen nach dem staatlichen Gewaltmonopol, die Julia von Heinz stellt. Eine Ordnung, in der sich Menschen jedes Einkommens und jeder Hautfarbe vom Staat repräsentiert und geschützt fühlen, erscheint unendlich fragil und zerstörungsanfällig. Wer es nicht schafft, sie transparent und resistent zu halten gegen autoritäre und rechtsnationale Einflüsse, wird sie verlieren. Die "Neue Ordnung" aber, die danach kommt - die kann man dann auch gleich die Hölle nennen.

© SZ vom 11.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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