Unwort des Jahres:Grundrechte, die zum Gewinnstreben erklärt werden

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Sammelabschiebung von abgelehnten Asylbewerbern (Foto: Daniel Maurer/dpa)

"Anti-Abschiebe-Industrie" ist das Unwort des Jahres. Wahrlich keine subtile Wahl, aber hasserfüllte, manipulative Sprache brüllt ja auch wieder, um das Denken zu verschieben.

Kommentar von Jakob Biazza

Wer wissen möchte, wie Sprache in einer Gesellschaft wirkt, wie sie Normen angreifen, zersetzen und zerstören kann, muss mit Seda Başay-Yıldız reden. Die Anwältin aus Frankfurt hat im NSU-Prozess die Familie eines Mordopfers vertreten, inzwischen verteidigt sie auch islamistische Gefährder. Geht es nach Alexander Dobrindt, ist sie also Teil der "Anti-Abschiebe-Industrie". Geht es nach Rechtsextremen, die vermutlich bei der hessischen Polizei sitzen, verdient Başay-Yıldız' kleine Tochter dafür den Tod. Man wolle ihr den "Kopf abreißen", heißt es in einem Drohbrief.

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Und das darf angesichts jüngerer Sprachentwicklungen nicht überraschen. Der Weg von Worten zu Taten war schon immer kürzer, als viele das wahrhaben wollen. Wie man über die Welt redet, hat Einfluss darauf, wie man sie wahrnimmt. Und damit auch, wie man in ihr handelt. Alles Aussagen, die inzwischen kurz davorstehen, zu Gedankenphrasen zu verkommen. Leider sind sie deshalb nicht weniger wahr. Die Wege von Worten zu Taten sind in den vergangenen Jahren wieder kürzer geworden. Die Sprache ist wieder ein Schlachtfeld für ideologische Kriege.

In diesem Kontext hat das "Unwort des Jahres" eine neue, eine reale Bedeutung. Und die diesjährige Wahl ist eine gute. Es hätte Begriffe gegeben, die besser gezeigt hätten, wie subtil Sprache ins Denken dringen und es aushöhlen kann - "Ankerzentrum" zum Beispiel oder "Rückführung". Stattdessen eine Entscheidung für das Laute, das Knallige, für den Tadel an der offensichtlichen Normverletzung. Die Wahl lässt sich sehr gut begründen, leider.

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"Anti-Abschiebe-Industrie" steht sehr exemplarisch für einen der vielen Momente, in denen Politik, die vermeintlich aus der Mitte der Gesellschaft spricht, in den vergangenen Monaten nach rechts gedriftet ist. Unter anderem mit Begriffen wie "Asyltourismus", "Sprachpolizei" oder "Asylwende". In diesem Fall ist der Urheber CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt: Wer mit Klagen versuche, die Abschiebung von Kriminellen zu verhindern, arbeite nicht für das Recht auf Asyl, sondern gegen den gesellschaftlichen Frieden, hatte der CSU-Politiker im Mai vergangenen Jahres der Bild am Sonntag gesagt. Und: "Es ist nicht akzeptabel, dass durch eine aggressive Anti-Abschiebe-Industrie bewusst die Bemühungen des Rechtsstaates sabotiert und eine weitere Gefährdung der Öffentlichkeit provoziert wird."

Dobrindts Worte waren ein Frontalangriff auf Grundrechte. Wer den in der Verfassung festgeschriebenen Rechtsschutz zu einer "Industrie" erklärt, verschiebt die Debatte schließlich auf ein gänzlich anderes Diskussionsfeld: weg vom Grundgesetz, hin zu wirtschaftlichem Schaffen. Industrien produzieren Telefone und Klamotten, Autos und Computer. Außerdem legen Industrien ihrem Tun ein Gewinnstreben zugrunde. Sie wollen Profit. "Anti-Abschiebe-Industrie": Ein mächtiges Framing, das sagt, hier strebt jemand nach Reichtum, für den er billigend in Kauf nimmt, dass angebliche Kriminelle das Land bedrohen. Kein Wunder, dass das in den Köpfen Ekel und Ablehnung hervorkriechen lässt. Es spricht mächtige, tiefsitzende Emotionen und Ängste an. Kein Wunder auch, dass die stark genug sind, alte, leise Normen zu verdrängen.

Nein, es ist keine subtile Entscheidung, die die Jury beim "Unwort des Jahres" getroffen hat. Aber sie ist ein frustrierendes Zeitzeugnis: Hasserfüllte, diffamierende und manipulative Sprache muss nicht subtil sein, um wenigstens bei Teilen der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Und um das, was man sagen darf, immer weiter zu verschieben - und zwar aus der Mitte an den Rand.

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