Tomi Ungerer in der Sammlung Falckenberg:Ein getuschtes Leben

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Tomi Ungerers lebenssattes Werk in einer Ausstellung der Hamburger Sammlung Falckenberg: sie lässt ahnen, welche Schätze sein Nachlass noch birgt.

Von Till Briegleb

Es sei doch fantastisch, wenn der Tod ein Nichts sei, hat Tomi Ungerer einmal gesagt, dann könne man ihn mit neuem Geist füllen. Nun kann man sicher sein, dass wenn er Recht hatte, sein Geist hinter dieser letzten Pforte sitzt und sich großartige Sachen ausdenkt, so manisch wie Ungerer sein ganzes langes Leben an seinem Bild der Welt auf Papier gearbeitet hat. Für die große Retrospektive, die zu seinem 90. Geburtstag am 28. November in der Sammlung Falckenberg der Deichtorhallen in Hamburg-Harburg eröffnet wird, muss auf den jenseitigen Teil seines Werks zwar verzichtet werden. Vor knapp drei Jahren starb Tomi Ungerer in seinem Haus an der Südspitze von Irland, lächelnd und mit einem Buch in der Hand. Der Tod, der den französischen Zeichner seit seiner Kindheit begleitet hat, als kommentierender, oft hämischer Komplize, bleibt aber als getuschter Zeuge omnipräsent.

Überall in dieser großen Ausstellung, die Bilder aus 80 Jahren zeigt, ist die personifizierte Negation des Lebens, das Ungerer so liebte, zu sehen. Schon in ersten Verarbeitungen des Nazi-Einmarsches und des Krieges in Colmar, die das Elsässer Vorschulkind zeichnete, ist das Skelett wichtiger Akteur. In seinen späteren Satiren auf die Dekadenz der New Yorker Society sind die Verrenkungen in Smoking und Abendkleid ein Totentanz mit dünnem Überzug an Haut und Luxus. Und noch wenige Tage vor seinem Tod schuf er eine letzte große Collage: ein dunkler Chor aus Roger Federers stimmt einen kollektiven Schrei der Angst an.

Dass Tomi Ungerer vor allem als Kinderbuch-Autor berühmt ist, der über 140 Geschichten erfunden und gezeichnet hat, ist kein Widerspruch zu dieser permanenten Anwesenheit des Schnitters in seiner Kunst. Erfolgreich wie angefeindet war er seine ganze Karriere über eben deshalb, weil er das Sterben nicht aus seinen Erzählungen für Kinder verbannte, so wenig wie die Erotik, den zweiten Dauergast in seinem Lebenstheater. Ungerers berühmteste Geschichten handeln von Kannibalen ("Zeraldas Riese", 1967), düsteren Verbrechern ("Die drei Räuber", 1961) oder einem Teddy, der die Zeit des Dritten Reichs mit Deportation und Krieg durchlebt ("Otto", 1999).

Ungerers Lieblingslied war "Die Gedanken sind frei", und so heißt auch diese umfangreiche Ausstellung, die seinen unkorrumpierbaren Willen zur Ungezwungenheit feiert: "It's all about Freedom." Sie ruft auf drei Stockwerken biografische Abschnitte wach, beginnend mit den eindrücklichen Kinderzeichnungen und unbekannten Arbeiten aus den Fünfzigern, die in einer Kiste seiner Straßburger Wohnung gefunden wurden und bereits das wandelbare Genie zeigen, das mit schnellem Stift die Ästhetiken seiner Zeit adaptiert. Aber auch sein unbeirrbarer Zorn auf das Ungerechte, Machtversessene und Destruktive des Menschen findet hier erste Beispiele ätzender Satire, etwa in der Karikatur eines Kirchenmanns, der zwei Knaben als seine "Schäflein" begrapscht.

Der größte Abschnitt dieser posthumen Entdeckungsreise mit diversen unveröffentlichten Serien widmet sich der Zeit seines Berufseinstiegs in New York. Als armer Schlucker, der 1956 krank in den USA ankam, wurde der vielseitige Autodidakt zum Wunderkind der Art-Directors-Szene und stolzen Besitzer eines Cadillacs und einer Villa in den Hamptons. Kampagnen für den New Yorker und Village Voice, Karikaturen der Reichen am Strand von Long Island oder seine berühmten Plakat-Motive gegen den Vietnam-Krieg, die Apartheid in den USA oder die Polizeigewalt zeigen die breit gefächerte Haltung Ungerers, der zu allen Aspekten des Lebens ein Sinnbild schuf.

Tomi Ungerer, 1931 in Straßburg geboren, lebte zwischen dem Elsass und Irland, wo er am 9. Februar 2019 mit 87 Jahren starb. (Foto: Gaetan Bally/picture alliance/dpa)

Speziell in Hamburg ist auch Ungerers erotisches Werk ein Pflichtkapitel, schließlich hatte er 1985 einige Monate bei St. Paulis berühmtester Hure Domenica auf der Herbertstraße gelebt, um die Wirklichkeit sadomasochistischer Sex-Arbeit in Wort und Bild zu beschreiben - was dann als "Die Schutzengel der Hölle" (1986) bei seinem Hausverlag Diogenes erschien. 15 Jahre vorher hatte seine von ihm als Satire bezeichnete Serie "Fornicon" (1970) zu einem Skandal in den USA geführt, der seinen Abschied aus New York 1971 veranlasste. Mit Barbiepuppen als Vorbild hatte er Szenen mechanischer Selbstbefriedigung gezeichnet, die als Liebe zum fetischhaften Sex verstanden werden konnten. Das verziehen amerikanische Eltern dem Wunderkind nicht.

Auch nach dieser umfassenden Ausstellung ist noch viel "Neues" von dem Toten zu erwarten, denn die Erschließung seines überquellenden Nachlasses wird laut seiner Tochter Aria Ungerer noch zehn Jahr dauern. Aktuell werden diverse Bücher wieder aufgelegt, darunter englische Ausgaben von "Babylon", "America" und "Tomi Ungerers Treasury" mit seinen acht besten Kinderbüchern, sowie eine deutsche Version von "Frances Face Maker", ein Vorlesebuch, das Ungerer 1965 mit William Cole gemacht hatte. Zwei seiner Kinderbücher werden verfilmt: "Flix" als animierte Fernsehserie und seine Teddyperspektive auf das Dritte Reich, "Otto", als Spielfilm. Und das Tomi Ungerer Museum in Straßburg bereitet eine große Ausstellung zu "Metamorphosen" in seinem Werk für 2022 vor. Das fantastische Nachleben von Tomi Ungerer ist also garantiert.

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