Netzkolumne:Flüchtige Schönheit

Lesezeit: 2 min

Tiktok hat weltweit knapp 700 Millionen überwiegend jugendliche Nutzer. (Foto: imago images)

Viele Apps versprechen, das Aussehen der User aufzuhübschen. Sie starten eine toxische Feedback-Schleife, in der Echtheit weder vorgesehen ist noch goutiert wird.

Von Michael Moorstedt

Ende Mai ging es auf der App Tiktok noch seltsamer zu als ohnehin schon. Tausende Nutzer hatten auf einmal den Eindruck, dass etwas mit ihrem Gesicht nicht stimmte, sobald sie begannen, ein Video von sich aufzuzeichnen. Die Kinnpartie war nun sichtlich ausgeprägter, man erschien dünner und femininer. Bedeckten sie die Kamera ihres Telefons mit der Hand, veränderte sich das Bild zurück zur Realität. Doch in den internen Einstellungen schien es keine Möglichkeit zu geben, den Effekt zu deaktivieren.

Schnell kam der Verdacht auf, dass auf der App ein neuer Schönheitsfilter getestet wird. Erst Tage nachdem Journalisten bei dem chinesischen Entwicklungsstudio Bytedance nach dem Grund für die deformierten Gesichter gefragt hatten, sprach man dort von "technischen Problemen", dann verschwand das Phänomen ohne weitere Erklärung.

Retusche-Apps und Gesichtsfilter sind Standard in sozialen Medien

Wer mag, kann das für einen Softwarefehler halten, muss dann aber die Frage aushalten, ob so viel Vertrauensvorschuss noch angemessen ist, bei einer Firma, die in der Vergangenheit nachweislich Videoinhalte von Menschen mit Behinderung oder Übergewicht unterdrückt hat. Bei einer App mit weltweit knapp 700 Millionen überwiegend jugendlichen Nutzern, deren Körper- und Selbstbild mehr oder weniger labil ist, kann man ein solches Herumgemurkse aber auch für bedenklich halten.

Retusche-Apps und Gesichtsfilter sind Standard in sozialen Medien. Allein die App Facetune ist mehr als 350 Millionen Mal heruntergeladen worden. Nimmt man Snapchat und Instagram hinzu, die über eine unüberschaubare Anzahl an Filtern verfügen, kommt man auf mehr als eine Milliarde Menschen, die sich mittels Software ihr Gesicht aufpolieren lassen.

Das von der Software verschriebene Idealbild ist so uniform wie vorhersehbar

Längst kommen entsprechende Apps nicht mehr nur in Fotos zur Anwendung, sondern auch in Echtzeit auf Live-Videostreams, und es bleibt auch schon lange nicht mehr bei dezenten Korrekturen etwaiger Krähenfüße. Immer wieder kommt es so zu dramatischen Szenen, wenn die Software mal versagt und sich Damen zur Empörung ihrer Follower in mittelalte Männer verwandeln.

Das von der Software verschriebene Idealbild ist so uniform wie vorhersehbar: Stupsnase, riesige Augen, volle Lippen, reine Haut. Niemand sieht so aus. Doch es gibt ein ganzes Arsenal weiterer Apps, die versprechen, mittels KI das eigene Aussehen objektiv zu quantifizieren. Die Website Quoves spricht von einer "Wissenschaft der Schönheit" und empfiehlt auch gleich die passenden Schönheitsoperationen. Innerhalb von Sekunden kann man sich so sein Selbstbewusstsein zerstören lassen.

Wer das mal ausprobieren will, dem sei das Projekt "How normal am I" empfohlen. Auf der gleichnamigen Website zeigt der niederländische Künstler Tijmen Schep, wie die Gesichtsbeurteilungs-Algorithmen funktionieren. Nach welchen simplen Methoden sie arbeiten, aber auch, wie man mit wenigen Gesichtsausdrücken ein Attraktivitätsprädikat von der Software verliehen bekommt, wo man zuvor als "hässlich" eingestuft wurde. Es ist eine toxische Feedback-Schleife, in der Echtheit weder vorgesehen ist noch goutiert wird.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Urheberrechtsreform
:Wem gehört das Internet?

Seit dieser Woche gilt das neue Urheberrecht für das digitale Zeitalter. Fragen und Antworten zu einer Reform, die die Machtverhältnisse im Netz verschiebt.

Von Philipp Bovermann

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: