Missbrauchs-Dokumentarfilm "The Case You" im Kino:Wir klagen an

Lesezeit: 2 min

Diese fünf rechnen ab: "The Case You - Ein Fall unter vielen" ist die Aufarbeitung eines realen Missbrauchs bei einem traumatischen Casting. (Foto: Mindjazz Pictures)

Fünf Schauspielerinnen, die 2015 Missbrauch bei einem Casting erleben mussten, wehren sich mit ihrer eigenen Kino-Dokumentation "The Case You".

Von Anna Steinbauer

Eindringlich und regungslos schaut die junge Frau direkt in die Kamera. Sie hält dem Blick des Betrachters stand, mehr noch: Sie blickt dem Zuschauer ins Gewissen. Man sieht ihr Gesicht in Großaufnahme, dann sagt sie: "Das nächste Mal hau' ich dir in die Fresse". Es ist ein befreiender Moment der Vergeltung, der Reinigung, der Wut, der sich hier nach einer halben Stunde im Dokumentarfilm "The Case You" vor laufender Kamera entlädt. Und ein Akt der Selbstermächtigung.

Die junge Schauspielerin Aileen Lakatos, die zuvor berichtet hat, wie sie zum Opfer sexueller Übergriffe während eines Filmcastings wurde, erobert sich mit der Erzählung des Vorfalls ihre Handlungshoheit zurück. Was Aileen widerfahren ist, deckt sich mit der Erfahrung zahlreicher anderer Schauspielerinnen. Sexueller Missbrauch am Filmset und die berühmte Besetzungscouch sind nach wie vor aktuelle Themen, die dank der #MeeToo-Bewegung in letzter Zeit vermehrt ins Bewusstsein der Öffentlichkeit drängen.

Die 1995 geborene Regisseurin Alison Kuhn lässt in ihrem emotional äußert aufwühlenden Dokumentarfilmdebüt fünf junge Schauspielerinnen aufeinandertreffen, die alle an dem besagten Casting teilgenommen hatten. Kuhn selbst war 2015 auch als Bewerberin bei diesem Vorsprechen gewesen, bei dem vom Regisseur, der Produktion und der Schauspielkollegen mehrfach Grenzen überschritten wurden. Das will sie nun, Jahre später, filmisch aufarbeiten. Im geschützten Raum des Theatersaals der Filmuniversität Babelsberg und vor Kuhns Kamera lassen die Frauen ihre traumatischen Erfahrungen Revue passieren, gleichen sie miteinander ab und versuchen einen Weg zu finden, mit dem Erlebten umzugehen.

Der Täter will das Material verwerten - und den Missbrauch fortsetzen

Von psychischer Manipulation, aufgezwungenen Nacktszenen bis hin zu sexuellen und gewaltsamen Übergriffen während des Castings berichten die Betroffenen. Die Erzählungen der jungen Frauen ergeben schockierende Einblicke in perfide Missbrauchs-Strategien in der Film- und Kulturbranche, in der Machtpositionen im Namen der Kunst schamlos ausgenutzt werden. Kuhn seziert diesen strukturellen Machtmissbrauch sehr eindringlich und stets auf Augenhöhe mit den Schauspielerinnen.

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Das Schlimmste ist für die jungen Frauen in vielen Fällen die Scham, die bleibt. Über sich selbst. Der eigenen Intuition nicht gefolgt zu sein, sich zu etwas gedrängt haben zu lassen, das man eigentlich nicht wollte. Mit minimalistischen Mitteln rückt die Regisseurin die Schauspielerinnen in dem schwarzen Probenraum in den Fokus und macht sich selbst zur Komplizin. Weder Musik noch Schnitt werden manipulativ eingesetzt, was dem Film eine ungeheure Präzision und den Protagonistinnen eine klare Stimme verleiht.

Da jener Casting-Regisseur den Missbrauch fortsetze, indem er aus dem gedrehten Castingmaterial einen eigenen Film montiert hat, gibt es aktuell ein Rechtsstreit zwischen der Produktionsfirma und den Schauspielerinnen. "The Case You" ist ein großartiger emanzipatorischer Wurf, auch in der Art und Weise, wie er gemacht wurde: Reflektiert und äußert sensibel schafft Kuhn es, mit ihrer Kamera den vergangenen Missbrauch ins richtige Bild zu rücken: In ein selbstbestimmtes, weilbliches Blickregime. Aileens Drohung kann also auch als ein Ende des Schweigens angesehen werden - und als Beginn der Gegenwehr.

The Case You - Ein Fall von vielen , D 2020 - Regie und Buch: Alison Kuhn. Kamera: Lenn Lamster. Musik: Kuhn, Dascha Dauenhauer. Mit Isabelle Bertges, Gabriela Burkhardt, Aileen Lakatos, Lisa Marie Stoiber, Milena Straube. Mindjazz Pictures, 80 Minuten. Kinostart: 10. 03. 2022.

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