Unter den Wählern und Mitgliedern der SPD lassen sich einige finden, die ihr selbst dann noch die Treue halten, wenn sie mehr als unzufrieden mit ihr sind. Ich gehöre dazu. Mein Denken und Handeln ist so eng mit der philosophischen und politischen Tradition dieser Partei verbunden, dass ich mir nicht vorstellen kann, eine andere Partei zu wählen.
Diese starke Bindung zeichnet die SPD aus. Sie ist aber auch ein Problem. Die Partei hat viele Krisen durchlebt und konnte sich oft dadurch erneuern. Das ist nun anders. Die Verluste bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen zeigen, dass ein Problem lange ignoriert werden kann, bevor es sich dramatisch den Weg bahnt.
Seit den Neunzigern hat es kaum noch sozialen Fortschritt gegeben. Die Tendenz zu kürzeren Arbeitszeiten hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. Die meisten Menschen arbeiten wieder mehr. Aus der Fünftagewoche ist keine Viertagewoche geworden. Die Löhne steigen sehr unterschiedlich, die Kaufkraft ist teilweise gesunken. Nicht wenige sind arm trotz Arbeit.
Seit über zwei Jahrzehnten geht es nicht mehr um das Ideal einer gerechten Ordnung, sondern um die Anpassung des Sozialstaats an den globalen Wettbewerb. Aus der Gesellschaft sind Standortbedingungen geworden. Viele Risiken, die früher der Sozialstaat abgeschirmt hat, sind privatisiert worden. Die ungestaltete Globalisierung und die Ausweitung des Marktes haben zur Entstehung einer wirtschaftlichen Macht geführt, die den demokratischen Willen außer Kraft gesetzt hat. Die SPD hat sich die falsche Alternative zwischen freien Märkten und einer nationalen Abschottung aufzwingen lassen. Sie hat es versäumt, mit der wirtschaftlichen auch die soziale Globalisierung zu fordern und von den Handelspartnern die Einhaltung von Mindeststandards zu verlangen.
Oft ist vom Niedergang der Arbeiterklasse die Rede. Aber das weltweite Proletariat wächst.
Häufig wird der Niedergang der SPD mit einem Niedergang der Arbeiterklasse in Verbindung gebracht. Aber tatsächlich ist das weltweite Proletariat in den letzten Jahrzehnten sehr viel größer geworden. Nur sind die Arbeiter verschiedener Länder nicht gemeinsam organisiert und lassen sich leicht gegeneinander ausspielen. Auf diese Weise sind auch die Gewerkschaften geschwächt worden.
Es gibt auch heute wieder eine breite Unterschicht, nur dieses Mal ohne Aussicht auf eine bessere Zukunft. Aus Teilen der Arbeiterklasse sind prekär Beschäftigte geworden. Das Selbstbewusstsein der organisierten Arbeiterschaft ist geschwunden. Wer sich ohnmächtig fühlt und isoliert ist, der verstummt. Die soziale Linke ist durch eine kulturelle Linke verdrängt worden. Während sich aber soziale Politik über die Nähe zu den Gewerkschaften definiert hat, stehen nun kulturelle und sexuelle Vielfalt im Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Programm des Multikulturalismus spiegeln sich die globalen Erfahrungen wider, die nach dem Ende der weltweiten Teilung möglich wurden. Die neue Politik versteht sich immer noch als progressiv, doch ihre Zielgruppe bilden die modernen Mittelschichten in den Städten, denen die Globalisierung Bewegungsspielräume eröffnet hat. Die Nation, die im 19. Jahrhundert die demokratische Gleichheit aller Bürger verkörpert hat, ist etwas für Verlierer geworden, die in der neuen Zeit keinen Patz mehr finden. Zeitgleich mit dem Abstieg der Arbeiterklasse hat sich eine globale Mittelschicht herausgebildet, für deren Identität ein progressiver Lebensstil wichtiger ist als die Zugehörigkeit zu einer Nation. Für die einen bedeutet Globalisierung unkompliziertes Reisen, für die anderen der drohende Verlust des Arbeitsplatzes. Die einen denken bei multikultureller Gesellschaft an eine internationale Schule, die anderen an ethnische Konflikte in einem sozialen Brennpunkt.
Die Gesellschaft besteht inzwischen aus einer Vielzahl von Communitys, die sich ethnisch, kulturell, religiös oder sexuell definieren. In dieser Hinsicht hat sich Deutschland den Vereinigten Staaten angeglichen. Der Preis für den Verzicht auf eine stärkere Gemeinschaft ist allerdings die Schwierigkeit, einen Konsens für soziale Reformen zu finden. So wichtig die Forderung nach Vielfalt ist, häufig wird dabei übersehen, dass es sich um ein liberales Programm handelt. Auch in einer bunten Gesellschaft sind die einen oben und die anderen unten, gehört sehr wenigen sehr viel und sehr vielen sehr wenig. Eine liberale Gesellschaft zeichnet sich durch die Möglichkeit aus, dass unterschiedliche Lebensentwürfe nebeneinander bestehen können. Ein starker Sozialstaat ist hingegen darauf angewiesen, dass sich prinzipiell jeder in jeden hineinversetzen kann. Wenn sich jeder nur mit seiner eigenen Gruppe identifiziert, wird die Bereitschaft zur Umverteilung geringer.