"Sigmund Freud" im Kino:Auf der Couch

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Sigmund und Anna Freud 1939 im Londoner Exil kurz vor seinem Tod. (Foto: Film-Kino-Text)

Der Dokumentarfilm "Sigmund Freud" erzählt das Leben seines Protagonisten mit dessen Werkzeug: der Psychoanalyse.

Von David Steinitz

Es gibt eine schöne Anekdote von Billy Wilder über seinen Versuch, als junger Journalist in Wien Sigmund Freud zu interviewen. Das war um 1925 oder 1926, erinnerte sich Wilder später in einem Interview. Er sei in die Berggasse 19 gegangen, wo der berühmte Doktor ihn erst einmal im Salon habe warten lassen. Dann sei Freud missmutig vom Mittagessen hereingekommen, immer noch mit der Serviette umgebunden, und habe genervt gefragt, ob er Reporter sei. Als Wilder bejahte, habe Freud, der Journalisten nicht mochte, ihn sofort rausgeschmissen mit den Worten: "Da ist die Tür!"

Wilder habe beim Verlassen der Wohnung immerhin noch einen Blick ins Behandlungszimmer auf die legendäre Couch werfen können, die ihm außergewöhnlich klein vorgekommen sei. Der Witz, den er sich im Nachhinein als Rache für den Rausschmiss natürlich nicht entgehen lassen konnte: "Freuds ganze Theorien basierten auf der Analyse sehr kleiner Leute."

Freud war ein begnadeter Erzähler, aber Journalisten setzte er trotzdem lieber vor die Tür

Dass das Interview nicht zustande kam, ist schade. Denn ein Gespräch zwischen Billy Wilder und Sigmund Freud wäre natürlich weltweite Pflichtlektüre geworden. Aber Freud hasste nun mal die Fragerei, obwohl er als Erzähler (zumindest in Schriftform) ein begnadeter Entertainer war. Man muss ihm nicht in allem zustimmen, aber seine Bücher, gerade die kulturtheoretischen Schriften wie "Das Unheimliche" oder "Das Unbehagen in der Kultur" sind immer noch eine unterhaltsame und bereichernde Lektüre.

Weil es nun also nicht allzu viele Interviews mit Freud gibt, er selbst aber der beste Erzähler seiner Biografie ist, hat der französische Regisseur David Teboul für seinen Dokumentarfilm "Sigmund Freud" nur Originalquellen verwendet. Er wollte keinen Film über, sondern mit Freud machen. Dafür greift er auf dessen Schriften, vor allem aber auf dessen zahlreiche Korrespondenzen mit Familie, Freunden, Kollegen und Jüngern zurück. Ergänzt werden diese Texte, die vom österreichischen Schauspieler Johannes Silberschneider gelesen werden, unter anderem durch Briefe von Freuds Tochter Anna, die von der österreichischen Schauspielerin Birgit Minichmayr gelesen werden.

Anna war eine treue Schülerin und Chronistin ihres Vaters. Sie erinnert sich in ihren Briefen an große Durchbrüche in der psychoanalytischen Arbeit und einschneidende biografische Erlebnisse. Aber sie erinnert sich auch an viele schöne Kleinigkeiten, die eine Person erst lebendig werden lassen. Wie zum Beispiel an den Geruch der Zigarren, der spätabends aus dem Arbeitszimmer des Vaters strömte, wenn er am Ende eines langen Tages endlich Feierabend machte.

"Mein Vater sagte immer, die Biographen seien Lügner ...": Anna und Sigmund Freud im Jahr 1929. (Foto: Film-Kino-Text/Freud Museum London)

Von Anna, die das Erbe Freuds später selbst als Psychoanalytikerin weitertrug, wird auch folgender Satz überliefert: "Mein Vater sagte immer, die Biographen seien Lügner ..." Um Freud auf seine Art gerecht zu werden, nähert der Regisseur David Teboul sich seinem Protagonisten deshalb so wie der Psychoanalytiker dem Problem seines Patienten: über den Weg der freien Assoziation.

Freuds Briefe und andere Primärquellen werden mit Bildern aus dem Wien der Jahrhundertwende illustriert, seltenen Archivaufnahmen ohne verklärende K.-u.-k.-Romantik, und noch selteneren und teils noch nicht gezeigten Aufnahmen aus dem Familienleben der Freuds. Manchmal wirkt das eher wie ein Experimental- denn wie ein Dokumentarfilm, mit Aufnahmen von Gebirgssteigern aus dem späten 19. Jahrhundert, die wie die Psychoanalytiker im großen Unbekannten der Bergketten auf der Suche nach Entdeckungen herumklettern. Aber auch das passt gut zum Thema.

Überraschende Erkenntnisse oder Enthüllungen über Freuds Leben und Werk liefert der Film nicht. Aber da Freud, vorsichtig gesprochen, zu den besser erforschten Figuren seiner Zeit gehört, braucht das auch gar nicht die Erwartungshaltung zu sein. Wer es bis ins letzte Detail wissen möchte, kommt weiterhin nicht an der legendären, knapp 1000-seitigen Freud-Biografie des deutschstämmigen US-Historikers Peter Gay vorbei. Der Film ist wegen seines experimentellen Ansatzes aber trotzdem sowohl für Neueinsteiger als auch für Freudianer spannend zu sehen.

Regisseur Teboul hat schon diverse Filmbiografien gedreht, zum Beispiel über Brigitte Bardot und Yves Saint-Laurent. Er hat ein gutes Gespür dafür, seine Protagonisten in ihre Epochen einzuordnen. Zu zeigen wie die Welt, in die man als kleines Menschlein geworfen wird, ohne Zeit und Ort beeinflussen zu können, zum Reibungspunkt für jedes Werk wird.

Freud hatte die "Traumdeutung" zwar schon früher fertig, veröffentlichte sie aber trotzdem erst 1900, weil er sich bewusst war, dass er mit diesem Werk eine neue Epoche einleiten würde, die sich auch im Veröffentlichungsdatum spiegeln sollte. Was er natürlich nicht voraussehen konnte, war der Kulturbruch des Ersten Weltkriegs und der Aufstieg des Nationalsozialismus in den Jahrzehnten danach. Der Film zeigt pointiert, wie sich sein Leben und sein Werk mit dem Lauf der Geschichte veränderten. Die Verschiebung vom Primat der Sexualität in seiner Lehre hin zur mächtigen Kraft des Todestriebs im menschlichen Handeln. Er selbst bezeichnete diesen Sinneswandel als eine "Vernunftehe" mit seinen "düsteren Theorien". Auch Freuds Verhältnis zur Religion, speziell dem Judentum, streift der Film.

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Am beeindruckendsten sind aber die Aufnahmen des späten Freud Ende der Dreißigerjahre, von den Nazis ins Londoner Exil getrieben. Todkrank ist er in diesen Filmaufnahmen bereits. Der Gaumenkrebs hatte sich schon unaufhaltsam ausgebreitet und sorgte für einen Verwesungsgeruch, der seinen geliebten Hund Yofie von ihm abschreckte. Die Flucht aus Österreich war eine Belastung, die Freud physisch fast nicht mehr stemmen konnte. Aber der Wille, selbstbestimmt und frei von Selbstmitleid nicht in der Diktatur, sondern in Freiheit zu sterben, war stärker.

Sigmund Freud, un juif sans Dieu , Frankreich/Österreich 2020 - Regie: David Teboul. Buch: Teboul, François Prodromidès. Kamera: Martin Roux, Richard Copans. Schnitt: Caroline Detournay. Sprecherinnen und Sprecher: Birgit Minichmayr, Johannes Silberschneider, Catherine Deneuve. Film Kino Text, 97 Minuten. Kinostart: 5.5.2022.

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