Serie "Welt im Fieber" - Senegal:Die Zeit okkupieren, bis zum Gehtnichtmehr

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"Dakar ist völlig geisterhaft. Die Stadt ist nicht wiederzuerkennen." (Foto: John Wessels/AFP)

Eigentlich hatte man auch im Senegal die Begegnung mit sich selbst aufgeschoben. Aber was stellen wir mit der wiedergefundenen Zeit an, wenn der Schraubstock gelockert wird?

Gastbeitrag von Felwine Sarr

Die Regierung hat soeben die Schließung der Schulen und Universitäten verlängert. Wir richten uns auf einen längeren Zeitraum sozialer Einschränkung ein. Eine totale Quarantäne ist das noch nicht. In den Unternehmen, wo das möglich ist, arbeiten die Angestellten im Home-Office. Für die anderen - man nennt sie ambulantes, Straßenhändler, oder informels, alle ohne genau definierten Job - ist die Arbeit primär mit Beziehungen und Kontakten verbunden. Die Interaktion der Menschen ist notwendig für den ökonomischen Tausch. Kaufen, verkaufen, feilschen, Handel treiben, das setzt physische Präsenz voraus. Die soziale Distanzierung muss immer die Art der individuellen Interaktionen berücksichtigen und an die Soziologie unserer Beziehungen angepasst werden. Die Räume der Zusammenballung zu kartografieren, die Orte des menschlichen Zusammenkommens, der Verdichtung, ihre Motive und Ursachen zu ergründen, ihnen dabei doch ihre Lebendigkeit zu lassen - das ist die Herausforderung, der sich unsere Anthropologen und Soziologen stellen müssen.

Dakar ist völlig geisterhaft. Die Stadt ist nicht wiederzuerkennen. Ihre Dichte hat sich aufgelöst. Ihre Energie hat sich zerstreut. Man sieht sie jetzt unter einem anderen Licht. Ihre Präsenz hat sich, nachdem die Einwohner auf den Straßen sich eher rar machen, erhöht, ihre Architektur, Alleen, die Gestalt ihrer Bäume, ihre atlantische Fassade sind jetzt sichtbar. Ihre Tiefe und Dichte spricht zu uns.

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Diese Zeit könnte eine wiedergefundene Zeit sein. Aber sie belastet der Schrecken, mit dem Unbekannten leben zu müssen, das vor uns liegt. Wir haben uns angewöhnt, die Zukunft zu belehnen. Die künftige Zeit zu planen. Die unter uns, die im Wirbel einer globalisierten, hypermobilen Zeit leben, wir waren es gewohnt, unsere Agenda auf Monate hinaus vollzupacken. Wir wussten, was wir den kommenden Winter und Frühling machen würden.

Für die Mehrheit war das Morgen immer gefärbt von Ungewissheit

Wir haben das Unerwartete ausgemustert, gewappnet mit einer Psychologie des Etablierten, einer Zeit, die geordnet wird von Zielen und Zwecken, vom Lieferbaren. Wir lebten in dieser Zeit des Kapitalismus, ausgerichtet auf immer größere Produktivität, besessen, die größtmögliche Zahl von Aktionen gleichzeitig auszuführen. Die Zeit okkupieren, bis zum Gehtnichtmehr. Für andere, und das ist die Mehrheit, war das Morgen immer gefärbt von Ungewissheit. Es brachte seinen Teil an Herausforderungen und plötzlichen Engpässen, manchmal Überraschungen und Tröstungen. Die ungewissen Zukunftstage, man lernte und wusste mit ihnen zurechtzukommen. Man zähmte die Zeit durch eine Runde Tee, durch das Netz einer Unterhaltung, die sie in einen Ort gehobener Qualität veredelte.

Wenn der Schraubstock demnächst wieder gelockert ist, was werden wir dann machen mit dieser wiedergefundenen Zeit? Dieser Moment verpflichtet uns, die Zukunft von Projekten freizumachen, sie zu de-projizieren, sie geschehen zu lassen. Sie zwingt uns, bei uns selber zu bleiben. Innerlich eine Präsenz zu entwickeln und diese sich offenbaren zu lassen, was gewöhnlich abgewürgt wird durch Hyperaktivität und den Lärm draußen. Wir hatten die Begegnung mit uns selbst aufgeschoben. Nun erklingt aufs Neue die grundlegende Vibration unserer Existenz. Mystiker, Schreiber und Künstler kennen das. Die Arbeit verlangsamen. Auf seine inneren Stimmen lauschen, die geschwätzige oder stille Vielzahl, das Volk, das uns bewohnt. So setzt sich in einem all das durch, was Zeit, Latenz und Dauer braucht, um hervorzukommen, sich zu kristallisieren und gegen die Wände unseres Seins zu stoßen.

Ostern in Senegal ist gewöhnlich von Leben erfüllt: Gründonnerstag, Karfreitag, Ostermesse. Dieses Jahr ist der Choral der Basilika der Märtyrer von Uganda verstummt. Der Erzbischof von Dakar und ein paar Priester feiern allein in der Kathedrale von Dakar die Messe. Sie wurde im Fernsehen übertragen, und die Gläubigen konnten ihr auch auf Whatsapp folgen. Da jeder zu Hause bleiben musste, konnte die traditionelle Verteilung des Ngalax-Desserts von den christlichen Familien an die muslimischen nicht stattfinden, Symbol der Verbrüderung der Religionen.

Felwine Sarr, geboren 1972, lehrt Ökonomie in Saint-Louis, Senegal. 2019 erschien von ihm das Manifest "Afrotopia" (Matthes & Seitz). Aus dem Französischen von Fritz Göttler.

© SZ vom 14.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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