Schriftstellerin Elfriede Brüning ist tot:"Erinnern strengt an"

Elfriede Brüning

Elfriede Brüning in ihrer Wohnung in Berlin-Friedrichshain. Sie wurde 1910 in der Hauptstadt geboren und gehörte seit 1932 zum "Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller".

(Foto: Jens Kalaene/dpa)

Elfriede Brüning hat als kleines Kind noch den Ersten Weltkrieg erlebt. Als Erwachsene kämpfte die Schriftstellerin für eine bessere Welt, wurde von der Gestapo verhaftet und eckte in der DDR an. Drei Monate vor ihrem Tod erzählte die Sozialistin der SZ aus ihrem außergewöhnlichen Leben.

Von Anna Günther und Oliver Das Gupta, Berlin

Elfriede Brüning fährt in ihrem Puppenwagen ein bisschen Krieg durch Berlin. Mützen für des Kaisers Soldaten, die ihre Mutter in der heimischen Stube gefertigt hat. Oft rattert die Nähmaschine bis in die Nacht.

Die feldgraue Ware wird in den Kinderwagen zum kleinen Bruder gelegt und in den Puppenwagen, die Mutter und Tochter durch Prenzlauer Berg zu einem Händler ziehen. Wohl mancher Soldat stirbt im Ersten Weltkrieg mit Mutters Mütze auf dem Kopf.

Kehren sie zurück aus dem Krieg, hat er ihnen oft ihre Gesichter vernarbt, Arme und Beine geraubt. "Es waren sehr viele Krüppel", sagt Elfriede Brüning heute über das, was sie als Schülerin auf den Straßen Berlins gesehen hat.

Weit und wach sind die Augen des Mädchens mit den langen, blonden Haaren, das im hellen Kleid auf alten Fotos posiert. Dieselben Augen betrachten 100 Jahre später die Bilder. Brüning sitzt im Sessel in ihrem Wohnzimmer, die Hände akkurat übereinander gelegt, als ob sie Halt sucht.

Sie möchte nichts Falsches erzählen, sondern nur das, was sie wirklich noch weiß. Die greise Dame gräbt in ihrem Gedächtnis. Sie lebt alleine in Berlin, den Tisch hat sie mit dem guten Porzellan gedeckt.

"Erinnern strengt an", sagt Brüning. Immer wieder wird sie fündig. Sie schildert Kindergeburtstage mit Blinde-Kuh-Spiel und wie gerne sie die Bücher vom Nesthäkchen las. Wie die Familie zu Weihnachten einen großen Baum in die Stube stellte und "Stille Nacht, heilige Nacht" sang. Und sie erzählt, wie die Hände schmerzten von den Schlägen der Lehrerin.

Lesen lernte der Vater erst als Erwachsener

Es sind Erinnerungen an die letzten acht Jahre des deutschen Kaiserreichs. Die Schriftstellerin wurde 1910 geboren. Mit Fleiß und Geduld hatten ihre Eltern sich nach der Jahrhundertwende den Aufstieg ins Berliner Kleinbürgertum erarbeitet. Vater Brüning hatte neun Geschwister und konnte als junger Erwachsener nicht lesen, nur buchstabieren - er war in die Lehre geschickt worden nach nur einem Schuljahr. Seine Ehefrau brachte ihm das Lesen bei und half ihm, die Ausbildung zum Tischler abzuschließen.

Bei Kriegsausbruch musste Vater Brüning kurze Zeit beim Landsturm dienen, einem Ersatzheer für wehrfähige Männer, die nicht beim regulären Militär kämpften. Dann schuftete er bei Krupp in Essen, in der Kriegsschmiede des Reiches. "Jeden Werktag musste mein Vater zwölf Stunden arbeiten", sagt Brüning und zeigt auf ein schwarz-weißes Foto an der Wand ihres Wohnzimmers.

Es zeigt einen jungen Mann mit ernstem Gesicht, der seinen Sonntagsanzug samt Melonenhut trägt. Sein dichter Schnauzbart ist an den Enden nach oben gezwirbelt. Genauso wie es der letzte Kaiser Wilhelm II. zu tun pflegte, der die Deutschen in den Krieg schickte. War Vater Brüning ein Anhänger des flatterhaften Monarchen?

Die Tochter winkt ab: "Meine Eltern waren unpolitische Leute", sagt sie. "Die haben sich erst später bei den Kommunisten engagiert, kurz bevor Hitler an die Macht kam."

"Der ist sicher verschüttet worden"

Während des Ersten Weltkriegs lag den Eltern Brüning vor allem daran, ihre Familie durchzubringen. 1915 kam Sohn Wolfgang zur Welt, ein Junge mit blonden Locken und dunklen Augen. "Er war so schön, dass die Leute auf der Straße stehen geblieben sind." Die Kinder litten Hunger. Dürr seien ihre Beine gewesen, erzählt Brüning. Nach vier Kriegsjahren war sie blass, übersensibel und unterernährt.

Ihre Tante Lene, deren Mann im Krieg gefallen war, organisierte das Arme-Leute-Essen in einer "Volksküche", wo für Elfriede ab und zu eine zusätzliche Mahlzeit abfiel. In einer Turnhalle wurde dem Mädchen der Napf mit einem verkochten Steckrübenbrei gefüllt. Brüning weiß noch heute, wie streng es aus den Bottichen roch.

Vorsichtig beugt sich die 103-Jährige in ihrem Sessel nach vorne, nimmt ihre Kaffeetasse und nippt daran. Ihre Leibspeise? "Ich esse seit meiner Kindheit nur, weil ich essen muss." Essen, um zu leben - so lautete die Losung vieler Hungernder im Ersten Weltkrieg.

Überall, wo es Nahrungsmittel gab, versuchten die darbenden Berliner etwas abzubekommen. Die Brünings hatten ein kleines Grundstück gepachtet, wo sie Gemüse zogen und Geflügel hielten. Satt wurden sie davon nicht. Mutter Brüning spannte ihre kleine Tochter in die Suche nach Essen ein. Sie ließ Elfriede anstehen in den langen Warteschlagen, die sich in der Hauptstadt vor Bäckereien und Fleischerläden bildeten. "Wenn man dann drankam, gab es oft nichts mehr", sagt Brüning.

Einmal stand sie beim Metzger an, als ein Mann vor ihr umfiel. Er blieb zuckend auf dem Boden liegen. "Der ist sicher verschüttet worden", hörte Elfriede jemanden sagen. Verschüttet im von Granaten aufgewühlten Erdreich an der Front. Ein Mann, der zwar geborgen worden war, aber doch traumatisiert vom Gefühl, lebend begraben zu sein.

An den Tag, an dem 1918 der Frieden kam, kann sich Brüning ebenso wenig erinnern wie an die Revolution und die bürgerkriegsähnlichen Zustände unweit von Prenzlauer Berg. Sie weiß nur, dass durch Unruhen und Streiks die Wasserversorgung zeitweise ausfiel. Dann mussten die Kinder hinaus, schöpften das Wasser aus öffentlichen Brunnen und schleppten die Eimer nach Hause.

Elfriedes Vater musste nicht an die Front, aber die harte Arbeit im Rüstungsbetrieb hatte ihn "winzig" gemacht, so nahm es die achtjährige Tochter wahr. Nach Kriegsende setzte er sich an seine Werkbank und zimmerte ein Küchenbüfett. Von diesem Möbelstück hing die Zukunft der Familie ab. Es fand sich ein Käufer - die Grundlage für den kleinen Handwerksbetrieb war geschaffen.

Weder Krieg noch Revolution haben Vater Brüning politisiert - das schaffte Tochter Elfriede. Sie hat in den Zwanzigerjahren damit begonnen, Artikel für Zeitungen zu schreiben. Durch die große Depression und ihre Auswirkungen auf Deutschland driftete sie politisch immer weiter nach links. 1930 trat Elfriede Brüning in die KPD ein, "damit sich etwas ändert und Wohlstand endlich gerecht verteilt wird", sagt sie heute.

Sie wurde Mitglied im Bund proletarischer Schriftsteller. Dort diskutierten die Genossen über die Erhaltung des Weltfriedens, denn das Grauen des großen Krieges war noch präsent. "Wir glaubten ernsthaft, Deutschland stehe vor einer proletarischen Revolution", sagt Brüning.

Die Revolution kam dann auch - allerdings anders, als sie es sich erträumte. Nach der Machtergreifung Adolf Hitlers 1933 schlossen sich Brüning und ihre Eltern dem kommunistischen Widerstand an. Eine von der Familie betriebene Bücherei im Wedding wurde zum Treffpunkt der Parteibosse.

Leni Riefenstahl engagierte Elfriedes Bruder

Elfriede Brüning zeigt auf ein Foto, das sie etwa 1914 zeigt: als kleines Mädchen.

Elfriede Brüning zeigt auf ein Foto, das sie etwa 1914 zeigt: als kleines Mädchen.

(Foto: Oliver Das Gupta)

Elfriede Brüning lernte dort spätere DDR-Größen wie Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck kennen, auch der 1944 im KZ ermordete KPD-Chef Ernst Thälmann kam vorbei. Ihr hübscher Bruder Wolfgang entfremdete sich von der Familie, nachdem er von Hitlers Lieblingsfilmemacherin Leni Riefenstahl engagiert worden war. Er schnitt ihre Nazi-Propagandafilme über die Reichsparteitage und die Olympischen Spiele.

Elfriede Brünings politisches Engagement wurde ihr im Herbst 1935 fast zum Verhängnis. Ein Spitzel verriet sie bei der Gestapo. In der Untersuchungshaft schrieb sie ein unpolitisches Buch, in Verhören tischte sie den Nazis Ausreden auf. Die Gestapo ließ sie frei, überwachte sie aber weiter. Brüning unterließ jede offene politische Aktivität, heiratete, zog ins Berliner Umland, bekam eine Tochter.

Nach dem Krieg trennten sich die Wege der Eheleute. Elfriede Brüning glaubte nun, dass das bessere Deutschland in der Sowjetischen Besatzungszone entstehen würde: die DDR. Publizistische Aufbauhilfe wollte sie geben. Sie arbeitete wieder als Journalistin, schrieb Sozialreportagen und dazu Dutzende Bücher, die eine Millionenauflage erreichten.

Bei der DDR-Führung eckte Brüning früh an. Sie schrieb einen Roman über eine werktätige Frau, deren Ehe scheitert, und deckte in ihren Artikeln Missstände auf, die im Arbeiter- und Bauernstaat offiziell nicht existierten, wie etwa das Elend in Kinderheimen. "Ich fühlte mich nicht nur dem Sozialismus, sondern auch der Realität verpflichtet", sagt Brüning.

Protokolle, die sie mit deutschen Stalin-Opfern machte, die den Terror überlebt hatten, konnte sie erst in der Endphase der DDR publizieren. Doch nach der Wiedervereinigung wurden fast alle Exemplare des Buches eingestampft.

Wie ein Waisenkind im wiedervereinigten Deutschland

Über das heutige Deutschland sagt Elfriede Brüning: "Ich fühle mich wie ein Waisenkind in diesem Land." Sie ist Mitglied der Linkspartei. Publizistisch tätig sein will sie nicht mehr. In den Fingerspitzen schwinde das Gefühl, sagt sie, und außerdem sei das Farbband der Schreibmaschine leer.

Zwei Kriege hat Elfriede Brüning erlebt, die Verfolgung während der Nazi-Zeit und den Hunger ihrer Kindheitserfahrungen, die sie den Jüngeren ersparen will: "Ich hoffe, dass kommende Generationen nie wieder das erleben, was wir durchmachen mussten."

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