Robert Menasse räuspert und entschuldigt sich, ehe er loslegt: Er mache das jetzt zum ersten Mal. In einigen Wochen wird es schon routinierter klingen. Seine Lesereise, auf der er seinen neuen Roman vorstellt, führt ihn bis Jahresende in zwei Dutzend deutsche Städte. Sie beginnt in Hartberg, einer kleinen Stadt mit 6774 Einwohnern in der Steiermark. "Die Erweiterung" ist Menasses zweiter EU-Roman. 2017 hat der Autor aus Österreich den Deutschen Buchpreis für den ersten bekommen: In "Die Hauptstadt" konzentrierte er sich auf die Brüsseler Institutionen, diesmal geht es darum, wie die Europäische Union größer wird.
Dazu passt, dass Menasse in Hartberg in einem im wörtlichen Sinne offenen Haus liest. Es ist eine Baustelle mit freigelegten Fundamenten und ohne Fenster, sodass der Wind hindurchzieht. Hier soll einmal ein Kulturzentrum entstehen, aber noch muss man in einem nach zwei Seiten offenen Stadel Platz nehmen - was dem Kettenraucher Menasse die Gelegenheit gibt, auch während der Lesung, die mehr eine Vorlesung über die Funktionsweise der EU ist, seiner Passion nachzugehen. Dieser Ort, den Menasse vorher nicht kannte, ist das perfekte Symbol für das, was der frühere Kanzler Helmut Kohl in seinen Reden als "Bau des gemeinsamen Hauses Europa" bezeichnet hat: unfertig, ausgehöhlt - da und dort sind Teile angebaut.
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Die Zukunft Europas treibt Robert Menasse an, das wird auch im Gespräch deutlich. Als glühender Europäer will er aber nicht bezeichnet werden. Nein! "Die EU ist eine großartige Idee, die schlecht verwaltet wird." Die Nationalstaaten könnten mit ihren Vetodrohungen weitere Entwicklungen verhindern. Wenn man Europa verändern wolle, müsse man ein Bewusstsein für seine Widersprüche schaffen. Das will Menasse mit seinen Mitteln tun: "Mein Anspruch ist: Ich will Europa erzählen können. Die Abgründe, all den Wahnsinn, das Beglückende, das Großartige der Idee, die niederschmetternde Blödheit mancher Repräsentanten."
"Die momentanen Eliten agieren weitgehend geschichtslos."
Er hat sich kundig gemacht: Um den ersten Roman über die EU schreiben zu können, hat er mehrere Monate in Brüssel gelebt. Der neue kreist nun um Polen und vor allem um Albanien, wo Menasse auch drei längere Aufenthalte eingelegt hat. Warum ausgerechnet dort? "Albanien ist mit all seinen Wahnsinnigkeiten und Widersprüchlichkeiten ein interessantes Exempel. Das Land implementiert systematisch die Justizreform als Bedingung für den Beitritt. Und umgekehrt gibt es Länder, die sind Mitglied und brechen systematisch europäisches Recht, wie Ungarn oder Polen." Diese Dialektik habe ihn interessiert, sagt Menasse. Dass in Staaten wie Albanien Politiker Wahlen mit dem Versprechen gewinnen, ihr Land in die EU zu führen, während in EU-Staaten Politiker Zugewinne erzielen, wenn sie sich besonders EU-kritisch geben, findet Menasse "bezeichnend für den Zustand Europas".
Eine große Rolle spielt in seinem Roman "Die Erweiterung" der albanische Nationalheld Skanderbeg, der im 15. Jahrhundert das christliche Abendland gegen das Osmanische Reich verteidigte: "Ein christlicher Held in einem mehrheitlich muslimischen Land. Das zeigt, wie lächerlich die Bedenken etwa von Polen sind, kein muslimisches Land in die EU aufnehmen zu wollen", sagt Menasse.
Der Helm dieses Skanderbeg liegt heute als Exponat im Weltmuseum, einer Dependance des Kulturhistorischen Museums in der Wiener Hofburg. Auf dieses nationalistische Symbol erhebt die albanische Regierung Anspruch. Er steht für ihren Versuch, die Albaner aller Länder - von Kosovo bis Nordmazedonien - hinter sich zu vereinen und Druck aufzubauen, damit es endlich etwas wird mit dem EU-Beitritt. Auch darum geht es Menasse, den Nationalismus und die Symbolpolitik in den EU-Staaten bloßzulegen: "Die momentanen Eliten agieren weitgehend geschichtslos. Auch im Widerspruch zu dem sehr klaren Geschichtsbewusstsein, das bei den Beitrittskandidaten vorherrscht. Die haben noch die jüngste Geschichte in den Knochen. Gleichzeitig haben sie nationale Mythen, die teilweise bis ins Mittelalter reichen. Das sind Dynamiken, die in den Alltag der Menschen hineinwirken."
Um davon erzählen zu können, hat Menasse eine Vielzahl von Figuren erschaffen, was manchmal die Orientierung in der Geschichte etwas erschwert. Der Roman ist gleichzeitig Tragödie und Satire, enthält Liebesgeschichten und historische Lektionen. Wie bereits in "Die Hauptstadt" transportiert Menasse in Form eines Romans viel Wissen über die eigentlich bürokratischen Vorgänge in Brüssel, mischt Fakten mit Fiktionen. Es stimmt, dass der französische Präsident Emmanuel Macron ein Veto gegen einen EU-Beitritt Albaniens eingelegt hat, und dass sich China für den albanischen Hafen Durrës und die Kupfervorkommen des Landes interessiert hat. Auch die Figur des albanischen Ministerpräsidenten im Roman erinnert frappierend an Edi Rama.
Manches steigert Menasse aber auch so ins Absurde, dass nicht klar ist: Was ist nun real, was erfunden? Am Anfang ist man noch versucht zu googeln, aber dann lässt man sich mitreißen vom Sog des Romans. "Das ist keine wissenschaftlich-historische Abhandlung, es geht um eine europäische Erzählung", stellt Menasse klar. Er, der mit so viel Überzeugungskraft vortragen kann, ist vorsichtiger geworden, das merkt man. Im Jahr 2019 war eine Debatte über historische Richtigkeit ausgebrochen, nachdem er eben nicht nur im Roman, sondern auch in öffentlichen Reden behauptet hatte, Walter Hallstein, der erste Präsident der Europäischen Kommission, habe seine Antrittsrede über die Zukunft Europas auf dem Gelände des Konzentrationslagers Auschwitz gehalten. Historiker wiesen ihm nach, dass es dieses Ereignis nie gegeben hatte, auch Zitate, die Menasse verwendet hatte, fanden sich bei Hallstein nicht wörtlich. Scharf wurde das als Geschichtsklitterung kritisiert, wenn auch eine zu guten Zwecken, nämlich um das Projekt Europa pointierter als im Geist von "Nie wieder Auschwitz" gegründet darstellen zu können. Menasse hat sich für die historischen Fehler entschuldigt. Wenn er heute spricht, fällt immer wieder eine Nebenbemerkung wie: Das würden manche Historiker vielleicht anders sehen.
Des Skandals unbenommen ist das "Manifest für eine europäische Republik", das Menasse mit der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot geschrieben hat, in dem sie das "Europa der Nationalstaaten" für gescheitert erklären, und inzwischen ins Haus der europäischen Geschichte in Brüssel gewandert ist. "Das ist ehrenhaft, aber das Ziel war die Realität, nicht die Musealität", sagt Menasse. Schon in seinem im Jahr 2012 publizierten Essay "Der europäische Landbote" hat Menasse mit Verve dafür plädiert, dass sich jeder Europäer über seine Region und die Union definieren solle. Denn, so argumentiert er: "Die großen globalen Krisen können nicht die Nationalstaaten alleine lösen, das geht nur gemeinsam. Entweder es gibt eine gemeinsame Zukunft oder es gibt keine Zukunft."
Insofern, so sagt er mit einem Zögern, gehe etwas wie das Gipfeltreffen der 44 Staats- und Regierungschefs schon in die richtige Richtung, die sich Anfang Oktober in Prag über ihr Vorgehen in der Energiekrise und gegen Putins Angriffskrieg auf die Ukraine verständigten. Die Idee dazu kam von Macron, der angeblich nach einer Intervention von Angela Merkel die Vetodrohung gegen Albaniens EU-Beitritt zurückgezogen hat. Krisen sieht Robert Menasse auch als Chance zur Veränderung: "Gibt es keine Krise, erschöpft sich der Kontinent in der Verwaltung seiner selbst."
Auch wenn Menasse nicht als glühender Europäer bezeichnet werden will, seinen europäischen Traum verfolgt der 68-Jährige konsequent: "Wer den Mauerfall 1989 erlebt hat, als von einem Tag auf den anderen alles anders wurde, darf nie wieder sagen, dass das Wünschenswerte nicht möglich ist oder etwas scheinbar Aussichtsloses nicht geändert werden kann."