Raffael in der National Gallery London:Furios

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Die Heilige Katharina von Alexandrien. (Foto: Raffael/The National Gallery, London)

Die National Gallery in London zeigt eine Werkschau des Renaissance-Malers Raffael. Und vermittelt uns Überlebenden der Pandemie eine existenzielle Wahrheit.

Von Kia Vahland

Der junge Engel käme auch ohne Flügel aus. Die ganze Kraft zum Sprung und Flug scheint er aus sich selbst zu nehmen, aus seiner gelenkigen Hüfte, den wendigen Beinen, den muskulösen Armen, mit denen er Schwung holt. Glücklich wirkt er beim Abheben, wie jemand, der weiß, was er kann und der sich selbst genug ist. Mit gezielten Strichen hat Raffael diese Körperstudie aufs Blatt gewirbelt, und es sieht nicht aus, als habe er dem Knaben, der ihm Modell saß, dafür künstliche Engelsflügel umgebunden oder ihn anderweitig gedrängt, eine unbequeme Pose einzunehmen.

So körpernah zeichnet, malt, denkt Raffael, dass man sich fragt, wie der Renaissancemann einst, lange nach seinem Tod, zum Inbegriff von ätherischer Erhabenheit und weltfremder Perfektion werden konnte. Eine große Ausstellung in der Londoner National Gallery räumt nun mit so einigen Künstlerklischees rund um den Frühverstorbenen auf. Eigentlich war sie zum 500. Todestag vor zwei Jahren geplant, dann aber kam Corona. Und vielleicht ist die Verschiebung ganz gut. Vielleicht sind die Zeitgenossen heute, nach zwei Jahren Pandemie und in einer rasant sich ändernden Welt, empfänglicher für das, was Raffael zu erzählen hat.

Zeichnung eines Engels. (Foto: Raffael/Ashmolean Museum, University of Oxford)

Es beginnt beim ganz Physischen: Konnte man sich bis zum Frühjahr 2020 in Teilen der westlichen Welt bestens von der eigenen Leiblichkeit ablenken, in digitalen Parallelwelten versinken und sich für ein reines Kopfwesen halten, so hat die Pandemie alle mit der simplen Wahrheit konfrontiert: Du hast keinen Körper, du bist einer, und zwar ein verletzlicher und jederzeit sterblicher. Raffael wusste das. Bei ihm sind, wie in der Philosophie seiner Zeit gängig, Regungen des Leibes immer auch welche der Seele.

Wenn Maria den Verkündigungsengel erst einmal mit erhobener Hand auf Abstand hält, zeigt sie ihre Überraschung. Wenn der Heilige Paul sich den Bart krault und uns die Schulter zuwendet, dann ist er ganz in Gedanken versunken. Und wenn sich die Heilige Katharina auf ihr Rad stützt, das Folterinstrument, tut sie das in gekonnter Drehbewegung gen Himmel: Die Intellektuelle unter den Märtyrern ist sich sicher, was sie tut. Man sieht Raffaels Menschen an ihrer Körpersprache an, wie es ihnen geht und was sie denken.

Die Renaissance gilt auch wegen solcher Porträts als Epoche, die das Individuum feiert

An noch etwas erinnert diese sorgsam zusammengestellte Schau mit ihren mehr als 90 Werken, alle von Raffael oder nach seinen Entwürfen geschaffen: Menschen brauchen einander. Raffael ist ein Beziehungsmaler. Das beginnt bei der Urform menschlichen Kontaktes, der Mutter mit Baby. Raffaels oft noch jugendliche Madonnen spielen mit dem Jesusjungen, stützen ihn behutsam am Po und Rücken, erfreuen sich an seiner Freundschaft mit dem Johannesknaben. Zueinander zu stehen, einander zu unterstützen, das ist eines von Raffaels Leitmotiven. Joseph entlastet Maria bei der Kinderbetreuung. Später trösten die Trauernden rund um Christi Leichnam sich gegenseitig. Und auch in Raffaels eigener Realität muss es den Wunsch nach Zusammenhalt gegeben haben. Einmal malt er sich selbst mit seinem Mitarbeiter Giulio Romano. Sie sehen sich nicht unähnlich: beide schwarz gewandet über weißem, viel zu sauberem Hemd, beide mit dunklen Bärten und großen, wachen Augen. Raffael lässt dem Malerkollegen den Vortritt und signalisiert seine Unterstützung durch eine Hand auf dessen Schulter. Der blickt zu ihm hin und hinauf. Zugleich weist Giulio mit der Hand nach vorne aus dem Bildraum hinaus, als wolle er den Meister wahlweise auf die Betrachter oder eine nicht abgebildete Staffelei hinweisen.

Selbstporträt Raffaels (links) mit dem Kollegen Giulio Romano. (Foto: Raffael/Paris, Musée du Louvre)

Michelangelo, Leonardo oder Tizian wären nicht auf die Idee gekommen, sich so demonstrativ als Teamarbeiter darzustellen. Sie waren es auch nicht im Vergleich mit Raffael. Der fördert seine Mitarbeiter neidlos, als er im Vatikan die Stanzen, die Privaträume von Papst Julius II., auszumalen hatte. Und er setzt auf Kooperationen, die auch ihm nützen: So lässt er den Kupferstecher Marcantonio Raimondi auch jene Entwürfe in Druckgrafik übersetzen, welche der Papst so nicht an seinen Wänden umgesetzt sehen wollte. Sie zirkulieren in ganz Europa, noch bevor die Gemälde in den Stanzen fertig sind. Der Netzwerker Raffael versteht sich auf Werbung in eigener Sache.

Bald geht er auch bei den Intellektuellen Roms aus und ein, malt sie, freundet sich an. Der Schriftsteller Baldassare Castiglione erkennt in ihm den idealtypischen Hofmann, einen gebildeten, geschmeidigen jungen Mann, der alles mit Leichtigkeit zu erledigen scheint, in Wirklichkeit aber hart arbeitet. Castiglione anrührendes Porträt ist in London zu sehen: ein in edle Schwarz- und Grautöne gewandeter Mann, der aus warmen blauen Augen heraus die Welt und seinen Maler betrachtet. Das Bildnis soll Castigliones Frau so gefallen haben, dass sie es in Abwesenheit ihres Gatten am Esstisch platzierte.

Bildnis des Baldassare Castiglione (Foto: Raffael/Paris, Musée du Louvre)

Die Renaissance gilt auch wegen solcher Porträts als Epoche, die das Individuum feiert, eine Zeit, in der die Menschen ihre Gefühle und Gedanken ernst nehmen und einander als Einzelwesen erkennen. Das stimmt. Doch es wäre ein moderner Trugschluss, deshalb anzunehmen, es handele sich auch um eine Epoche des radikalen Individualismus. Es ist insbesondere Raffael, der das Gegenteil beweist.

Er tut dies allen voran in den Stanzen, zu denen Vorarbeiten in der Schau zu sehen sind. Das Grundprinzip gerade jener Fresken, die noch unter Julius II. entstanden, lautet Einheit in Vielfalt. Raffael zeigt Gemeinschaften, etwas die der Philosophen und Wissenschaftler in der "Schule von Athen" oder die der Künstler, Dichter und Musen im "Parnass". Sie setzen sich aus sehr unterschiedlichen Individuen mit unterschiedlichen Denkansätzen zusammen. So debattieren im Zentrum der "Schule von Athen" Aristoteles und Platon; auf dem "Parnass" kommen etwa Sappho, Dante und Homer zusammen. Was Raffael hier vor Augen führt, ist gelebte Diversität. Dies aber führt gerade nicht zur Spaltung der einzelnen Gemeinschaften, sondern es stärkt sie - so wie das ganze Bildprogramm am Ende das Papsttum stärkt, das bei Raffael in der Lage ist, sehr verschiedene Milieus und Akteure unter seinem Dach zu versammeln.

Er ist also nicht nur der Körper- und Freundschaftsmaler, er ist auch ein Mann, der die Utopie eines modernen Staatswesens unter die Leute bringt. Diese gründet (anders als in der Realität auch der Raffael-Jahre) nicht in erster Linie auf Gewalt, sondern auf Vertrauen und dem Wissen darum, wie produktiv Unterschiede sein können. Ganz sicher setzen sich bei Raffael deshalb nicht Mittel- und Gleichmaß durch, er redet keiner Uniformität das Wort - aber genauso wenig interessieren ihn Leute, die nur ihre Partikularinteressen verfolgen.

Kein Gott spricht hier, aber auch kein Langweiler, sondern ein Künstler, der alle Zeiten etwas zu sagen haben kann.

Auch dies sind durchaus Bilder und Ideen, von denen Heutige profitieren können, wenn sie dazu bereit sind. Schließlich kommt während der Pandemie und während des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ein Individualismus, der sich um gemeinschaftliche Werte nicht schert, an Grenzen.

Das Gute an der Londoner Ausstellung ist, dass sie so nah an den Originalen argumentiert. Zusammengekommen ist ein breites Spektrum von großen Altären wie dem der Heiligen Cecilia aus Bologna über Teppichen nach Raffaels Entwürfen bis hin zu seinen Architekturzeichnungen. Die Seheindrücke sind so vielseitig und so überzeugend, dass die Kuratoren darauf verzichten können, noch einmal explizit zu erklären, wie Raffael erst nach seinem Tod bis in die Goethezeit vergöttert und dann von der Moderne verachtet wurde, beide Male wegen seines Sinns für Harmonie. Die Werke selbst widerlegen beides: Kein Gott spricht hier, aber auch kein Langweiler. Sondern ein Künstler, der alle Zeiten etwas zu sagen haben kann. Und der Gegenwart besonders.

Raffael. National Gallery in London, bis 31. Juli. Katalog in der Ausstellung 35 Britische Pfund.

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