Der Arabische Frühling hatte seine beste Zeit hinter sich, und der politische Spielraum verengte sich täglich, aber noch wurden Visionen straffrei verbreitet. Während sich auf dem Tahrir-Platz in Kairo die Masse heiser schrie, verstieg sich daneben im achten Stock eines Hotels einer der führenden Salafisten Ägyptens zu einer bemerkenswerten Forderung. Er wünsche sich für sein Land Demokratie, und zwar nicht irgendeine Demokratie, sondern ein demokratisches System wie in Frankreich.
Frankreich, das Mutterland der Revolution, das kurz zuvor ein Verbot des Niqab, des Gesichtsschleiers, ausgesprochen hatte? Wirklich? Der Salafist, kurz aus dem Konzept gebracht, rettete sich in die große Dimension: Jawohl, und warum nicht gleich ein modernes Kalifat schaffen, eine Gemeinschaft der Gläubigen - nach dem Vorbild der Europäischen Union?
Sieben Jahre später wirkt die Szene erstaunlich: durch die unhinterfragte, inzwischen fast nostalgische Strahlkraft der Begriffe "Europäische Union" und "Demokratie", aber auch, weil die Demokratieforderung des Bärtigen ein grundlegendes, und hochaktuelles Missverständnis darüber verrät, was dieser Begriff wohl bedeutet. Nach einem Bonmot unter Nahost-Experten erschöpft sich die islamistische Demokratievorstellung in einem Machtgewinnungsmechanismus aus wenigen Worten: "One man, one vote, one time". Hätten die Islamisten einmal die Macht durch Wahlen errungen, so die Vermutung, würden sie sie einzig dazu nutzen, um die Demokratie abzuschaffen. Und so war Demokratie natürlich nicht gemeint.
Inzwischen hat dieser Irrtum allerdings seinen Widerhall in der europäischen Gegenwart gefunden. Dass die Falschen demokratische Mittel missbrauchen, um die Demokratie zu deformieren oder sogar abzuschaffen, ist eines der Bedrohungsszenarien in der allmählich doch sehr reichhaltigen Demokratiedämmerungsliteratur. Autoren von Yascha Mounk über Steven Levitzky und Daniel Ziblatt bis zu Georg Seeßlen beschreiben das Siechtum einer einst unbesiegbaren Idee. Besorgte Analysen von Georg Diez ("Das andere Land"), Hans-Peter Martin ("Game over") und Michael Hartmann ("Die Abgehobenen") folgen im Herbst.
Zwar zeichnen sich am Horizont auch optimistischere Werke ab, aber das Grundgefühl, das auch eine Zeitschrift wie Foreign Affairs ("Is Democracy Dying?") erfasst, lässt sich etwa so zusammenfassen: 26 Jahre nachdem Francis Fukuyama das "Ende der Geschichte" und den Sieg der westlichen Demokratie ausrief, trägt eben jene Demokratie nur noch Episodencharakter. Der unschlagbare Magnetismus des demokratischen Modells wurde vom Aufstieg der Rechten, Populisten und Autokraten längst performativ widerlegt. Wenn China wirtschaftlich so übermächtig und Russland außenpolitisch so aggressiv sein darf, wenn in Ungarn, Polen, Österreich Rechtspopulisten Wahlen gewinnen, ist es Zeit für eine schonungslose Selbstprüfung: Waren die Minderheiten in ihren Ansprüchen zu maßlos? Die "Eliten" zu gierig? Das "Establishment" zu arrogant? Die Medien zu selbstbezogen?
Die Geschwindigkeit, mit der dabei der universelle Anspruch der Demokratie preisgegeben wird, ist atemberaubend. Handlungsleitende Grundannahmen von gestern, hat der brillante bulgarische Soziologe Ivan Krastev konstatiert, "wirken inzwischen nicht nur veraltet, sondern geradezu unverständlich". Differenzierte, weit gereiste Zeitgenossen fragen ohne zu blinzeln, ob die Demokratie noch das beste Modell für Deutschland ist. Sieht so das Ende aus?
Im Jahr 2000 hatten weltweit bis auf acht Länder alle Staaten zumindest einmal wählen lassen
Nimmt man die düsteren Panoramen genauer in Augenschein, erkennt man vor allem die geschickte Pinselführung. Lange Zeit war Unschärfe ein Trick der Feinde der Demokratie. Unter dem Deckmantel demokratischer Forderungen, schallte es aus Moskau oder Damaskus, wolle der Westen nur seinen "Way of Life", Nacktbilder oder die Nato-Außengrenzen in fremdes Staatsgebiet tragen. Die bunte Revolution in Georgien? Der Maidan in Kiew? Der Arabische Frühling? Demokratisch verbrämte Expansionsbewegungen.
Das war reine Propaganda. Nun betreiben ausgerechnet die Hüter der Demokratie ähnliche Übersteigerungen. Zu den Grundzutaten einer Demokratie gehören freie Wahlen, Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Aber wenn jetzt von der todkranken Demokratie die Rede ist, geht es meist um viel mehr: wirtschaftliche oder militärische Überlegenheit, ein liberales Gesellschaftsmodell, kulturelle Offenheit, "westliche" Werte, ja, gleich um den ganzen "Westen". Selten sah das Abendland so schlecht aus.