Appell von Roberto Saviano:"Ohne euch ist Italien verloren"

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Appell von Roberto Saviano: Seit mehr als zehn Jahren lebt der 38-jährige Neapolitaner Roberto Saviano unter ständigem Polizeischutz, weil er auf den Todeslisten der Mafia steht.

Seit mehr als zehn Jahren lebt der 38-jährige Neapolitaner Roberto Saviano unter ständigem Polizeischutz, weil er auf den Todeslisten der Mafia steht.

(Foto: AFP)

Der Schriftsteller Roberto Saviano prangert das Schweigen in seinem Land an und appelliert an Italiens Intellektuelle, gegen die Angriffe auf Demokratie und Bürgerrechte aufzustehen.

Gastbeitrag von Roberto Saviano

Ein Innenminister, der gegen einen Autor vor Gericht zieht? Wäre es nicht so ernst, man könnte das Ganze als düstere Posse verbuchen. Es ist aber ernst, schließlich geht es um das Leben eines Journalisten und Autors: Der italienische Innenminister Matteo Salvini hat im Juni gedroht, Roberto Saviano den Polizeischutz zu entziehen. Saviano steht seit seinem Welterfolg "Gomorrha" aus dem Jahr 2006 auf den Todeslisten der Camorra und lebt deshalb unter ständiger Bewachung, ein Zustand, den er selbst als außerordentlich quälend beschrieben hat. Saviano bezeichnete Salvini auf dessen Drohung hin als "Minister der Unterwelt", der die "Sprache eines Mafioso" spreche. Kurz darauf erschien auch in dieser Zeitung (SZ vom 25. Juni) ein Interview mit Saviano. Ende voriger Woche hat Salvini nun Klage gegen Saviano eingereicht. "Ich akzeptiere jede Kritik", erklärte er dazu auf Twitter, "aber ich erlaube niemandem zu sagen, dass ich der Mafia helfe." In seiner Anklageschrift zitiert er unter anderem das Interview mit der SZ. Als Reaktion auf Salvinis Anzeige hat Roberto Saviano einen Text geschrieben, in dem er Italiens Intellektuelle und Künstler aufruft, die Krise der italienischen Demokratie ernst zu nehmen und gegen die Verfechter eines autoritären Kurses Stellung zu beziehen.

"Das Schweigen ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können."

Wo seid ihr? Warum versteckt ihr euch? All ihr Autoren, Journalisten, Blogger, Philosophen, Schauspieler: Heute können wir es uns nicht mehr erlauben, nur das zu sein. In diesen Zeiten muss jeder, der die Möglichkeit hat, zu einem Publikum zu sprechen, es als seine Pflicht verstehen, Position zu beziehen. Wie Sartre sagte: Jedes Wort hat Folgen. Aber auch das Schweigen hat Folgen. Das Schweigen ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können.

Keiner traut sich zu sagen, dass er schweigt, um nicht zu polarisieren, oder weil er fürchtet, dass dann weniger Aufträge oder Engagements kommen. Aber wenn wir so denken, haben wir schon verloren. Man schweigt, weil Position zu beziehen bedeutet, einen Teil der Leute zu verlieren, die dir im Netz folgen, die deine Bücher kaufen oder deine Konzerte besuchen.

Mit Berlusconi war es viel klarer: Es gab ihn und es gab uns. Kritisierte man ihn, bekam man einiges ab, aber es gab eine Gemeinschaft, die sich schützend um einen stellte. Gegen Berlusconi zu sein hieß nicht, dass man Popularität verlor. Heute ist das nicht mehr so. In dieser Regierung kann man Anzeichen von etwas extrem Gefährlichem erkennen. Heute werden die belästigt, die das machen, was normal ist: denjenigen auf die Finger zu schauen, die uns regieren. Unsere Demokratie ist jung und fragil, aber sie ist vor allem antifaschistisch und antirassistisch. Habt ihr den Eindruck, dass diese Regierung heute die Werte respektiert, die den Kern unserer Verfassung ausmachen? Kommt es euch nicht eher so vor, dass wir nach knapp 70 Jahren Wohlstand und Frieden wieder empfänglich werden für die Slogans fremdenfeindlicher Parteien? Dass wir unachtsam, ja desinteressiert daran wurden, über unsere Grundrechte zu wachen?

Diese Regierung, die damit spekuliert, dass viele Menschen in Schwierigkeiten stecken, benutzt die Angriffe auf Migranten und NGOs als Ablenkungsmanöver. Während Cinque Stelle und Lega über fundamentale Probleme ihres Regierungsvertrags streiten, machen sie uns glauben, dass unser Kernproblem die Migranten seien. Wenn ihr für die Lega und für Cinque Stelle gestimmt habt, um mal so richtig auf den Tisch zu hauen, weil das in euren Augen die einzige Methode war, eine Politikerkaste loszuwerden, die in jeder Hinsicht versagt hatte, dann macht die Augen auf, denn die Dinge wenden sich zum Schlechten. Auch für euch.

Was da gerade passiert, ist nicht so sehr ein Kampf zwischen Matteo Salvini und mir. Es geht gar nicht um meine Person. Ich spreche für diejenigen, die keine Stimme haben. Für die 600 000 Migranten in Italien, deren Status dringend legalisiert werden muss, denn sie werden in die Sklaverei gezwungen. Und für die NGOs, die Menschenleben auf dem Meer retten.

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